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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

zeitliche Beschränkung der Zweck der Massnahme vereitelt wird. So ist die Strafrechtskommission des Reichsjustizamtes dazu gekommen, eine auf unbestimmte Zeit angeordnete Sicherungsnachhaft nach verbüsster Strafe an die Stelle jener Verwahrungsstrafe zu setzen.

Aber auch einer anderen Gruppe von verbrecherisch gewordenen und gemeingefährlichen Personen gegenüber versagt das geltende Recht vollständig: Das sind die Geisteskranken, die nach § 51 Strafgesetzbuch wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freigesprochen werden müssen, ohne dass irgend welche Massregeln zum Schutze der Gesellschaft getroffen werden können. Hier hat bereits das italienische Strafgesetzbuch von 1889 die Verwahrung in einem der manicomi criminali vorgesehen. Wie die Entwürfe Österreichs und der Schweiz, hat auch der deutsche Vorentwurf § 65 diese Bahn betreten. Das Gericht, das den Geisteskranken freispricht oder ausser Verfolgung setzt, hat, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen. In dieser verbleibt der Geisteskranke, so lange seine Gemeingefährlichkeit die Verwahrung notwendig macht.

Dieselbe Massregel ist endlich auch gegenüber den gemeingefährlichen vermindert zurechnungsfähigen Personen im deutschen Vorentwurf vorgesehen. Gerade hier weist das geltende Recht im Gegensatz zu der Mehrzahl der deutschen Partikularstrafgesetzbücher eine empfindliche Lücke auf. Es kennt den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht. Die Folge davon ist, dass alle Minderwertigen, die in steigender Anzahl vor den Strafrichter kommen, nach Verbüssung der gegen sie erkannten, meist gemilderten Freiheitsstrafe, trotz ihrer fortdauernden Gemeingefährlichkeit, auf die menschliche Gesellschaft losgelassen werden müssen. Der deutsche Vorentwurf sieht in diesem Fall zwar Strafmilderung vor, weist aber den Richter an, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, anzuordnen, dass der Verurteilte nach verbüsster Freiheitsstrafe in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt verwahrt wird.

4. Eine Sonderstellung nehmen die verbrecherisch gewordenen Alkoholiker ein. Soweit diese nicht als zurechnungsunfähig oder als gemindert zurechnungsfähig anzusehen und daher, wenn gemeingefährlich, in dauernde Verwahrung zu nehmen sind, kann nur ihre Heilung in Frage kommen. Die deutsche Gesetzgebung hat sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, ohne zum Ziel zu gelangen; die Regierungsentwürfe von 1881 und 1892 sind nicht Gesetz geworden. Nach § 43 des deutschen Vorentwurfs kann das Gericht, wenn Trunksucht des Täters festgestellt ist, anordnen, dass der Verurteilte bis zu seiner Heilung, jedoch höchstens auf die Dauer von zwei Jahren, in einer Trinkerheilanstalt untergebracht wird; vorausgesetzt, dass diese Massregel erforderlich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmässiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.

5. Am wenigsten geklärt ist die Frage nach der Behandlung der sogenannten kleinen Kriminalität, also des grossen Heeres der Bettler, der Landstreicher und der Arbeitsscheuen. In der Gesetzgebung fast sämtlicher Kulturstaaten fehlt es nicht an teilweise weit zurückreichenden Versuchen, dieser Landplage Herr zu werden; es ist aber bisher nicht gelungen, eine befriedigende Lösung des Problems zu finden. Das Arbeitshaus, das diesen Personen gegenüber, und zwar meist nach verbüsster kurzer Freiheitsstrafe zur Anwendung gebracht wird, ist seiner geschichtlichen Entwicklung nach als Besserungsanstalt gedacht. So lässt auch der deutsche Vorentwurf bei gewissen strafbaren Handlungen die Einweisung in das Arbeitshaus auf die Dauer von sechs Monaten bis zu drei Jahren unter der Voraussetzung zu, dass „diese Massregel erforderlich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmässiges und arbeitsames Leben zu gewöhnen.“ Es ist aber zum mindesten zweifelhaft, ob die Arbeitshäuser bei ihrer heutigen Einrichtung überhaupt geeignet sind, die ihnen gestellte Aufgabe der bürgerlichen Besserung zu erfüllen. Dazu tritt die weitere Erwägung, dass auch dieser Gruppe gegenüber, soweit Unverbesserlichkeit angenommen werden muss, nicht Besserungsmassregeln, sondern dauernde Sicherungsverwahrung erforderlich erscheint. Anhaltung im Arbeitshaus bis zur Höchstdauer von drei Jahren ist aber zweifellos ausserstande, dieser Forderung zu genügen. Es wird also auch hier an die Stelle der einheitlichen Schablone eine differenzierende Behandlung treten müssen.

IV. Die legislative Durchführung der Reformgedanken.

In den meisten Ländern hat man sich, sei es schon in den letzten beiden Jahrzehnten des neunzehnten, sei es seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, damit begnügt, durch einzelne

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/216&oldid=- (Version vom 4.12.2021)