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trug ein rein protestantisches Gepräge, indes die gewaltigen Traditionen, die nach dieser Richtung die katholische Kirche im mittelalterlichen Papsttum hat, eine Erneuerung in der modernen Friedensbewegung, wenn überhaupt, nur in ganz geringem Umfang fanden. Zweitens bildete und bildet der Friedensgedanke einen starken Bestandteil der machtvollen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Auch wenn diese Bewegungen nicht so weit gingen, die Idee des besonderen Volkes und Vaterlandes ganz aufzulösen in dem Schlachtruf: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“, so besteht doch kein Zweifel, dass der moderne Sozialismus grundsätzlich Frieden unter den Staaten predigt und verlangt, um die von ihm als Existenzbedingung der Völker geforderte Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse der Menschheit durchführen zu können. Man wendet sich mit aller Schärfe gegen den Gedanken äusserer Kriege, um, wenn nötig, den inneren Krieg zur Erreichung jenes sozialen Zieles führen zu können. Wie immer man nun zu diesen sozialen Fragen stehen mag, so ist doch zweifellos, dass der Friedensgedanke als ein wesentlicher Bestandteil des modernen Sozialismus zu betrachten ist, selbst bis zu dem Extrem der vollständigen Beseitigung der bestehenden Heere. Neben diesen beiden Richtungen entwickelte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte noch eine dritte, wesentlich auf literarischer Grundlage, als deren Begründerin und geistiger Mittelpunkt die Wiener Schriftstellerin Berta von Suttner bezeichnet werden darf. Unabhängig von religiösen, politischen und sozialen Gedanken verwirft sie den Krieg als solchen aus rein kulturellen Gesichtspunkten und fordert die Erledigung aller internationalen Streitfälle auf friedlichem Wege, da der Krieg unter allen Umständen eine Barbarei sei, durch die in nicht zu verantwortender Weise hohe Kulturwerte der Menschheit gefährdet und vernichtet würden. Diese literarische Bewegung des sog. Pazifismus hat eine immer steigende Bedeutung gewonnen und kann, wenn auch anfangs ziemlich allgemein und vielfach auch heute noch geringschätzig betrachtet, dermalen nicht mehr in ihrer ethisch-kulturellen Wirksamkeit verkannt werden, auch dann wenn man Klarheit der Endziele und richtiges Augenmass für die politischen Kräfte der Wirklichkeit vielfach vermisst. Es konnte selbstverständlich nicht fehlen, dass die drei oben gekennzeichneten Richtungen der Friedensbewegung sich mannigfach begegneten und in einander übergingen behufs Erreichung des von ihnen in gleicher Weise erstrebten Zieles.

2. Einen mächtigen Aufschwung nahm die Friedensbewegung durch die Berufung der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899. Ob, wie die Pazifisten behaupten, die vom russischen Kaiser Nikolaus II. ausgegangene Berufung dieser Konferenz auf pazifistischen Anregungen direkt beruhte, muss dahingestellt bleiben; zweifellos haben diese Anregungen auf den russischen Kaiser stark eingewirkt.

Unter grosser Bewegung der Geister in der ganzen Welt trat die Friedenskonferenz zusammen. Ihre bedeutenden kriegsrechtlichen Arbeiten, die in der ersten und zweiten Kommission durchgeführt wurden, interessieren hier nicht; dem Ideenkreis der Friedensbewegung aber gehören zwei Arbeiten der Konferenz an: Die sog. Abrüstung und die Schiedsgerichtsbarkeit. Die Beratung über den erstgenannten Gegenstand – in der ersten Kommission – war von dramatischer Kürze. Man erkannte sehr bald, dass eine praktische Verwirklichung dieser Gedanken bei den gegenwärtigen Staats- und Weltverhältnissen unmöglich sei; so wurde der Gedanke nach kurzer Verhandlung dem „weiteren Studium“ der Regierungen überwiesen und auch auf der zweiten Friedenskonferenz 1907 war die Frage noch nicht weiter ausgereift. Dabei ist es bis zu diesem Augenblick geblieben: Die Rüstungen der Staaten haben sich nicht vermindert, sondern in sehr erheblichem Grade vermehrt.

Dagegen erwies es sich als möglich, dem Schiedsgerichtsgedanken eine praktische Verwirklichung zu geben und zwar in einem Grade, der die Hoffnungen, die man in dieser Hinsicht gehegt hatte, erheblich übertraf.

Der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit reicht weit zurück in der Geschichte der Menschheit; sowohl das Altertum wie das Mittelalter kennen ihn und haben ihn praktisch geübt. Auch im Rahmen des modernen Völkerrechtes hatte der Gedanke eine, wenn auch kümmerliche, theoretische Gestaltung gefunden und die Praxis der Neuzeit hatte von ihm in zahlreichen Fällen Gebrauch gemacht; der bekannteste Fall der Neuzeit ist wohl der berühmte Alabamastreit zwischen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/408&oldid=- (Version vom 25.12.2021)