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etc., ebenso wie von ihren Freuden und Vergnügungen oft so weit Entfernten ein Ersatz dafür geboten wird, damit er nicht deswegen der väterlichen Scholle untreu wird. Es gilt also, ihm dies alles zu bringen, was der Bewohner des anderen Gebietes leicht selbst in der Stadt sich holen kann. Hier ist ausserdem besonders wichtig das Problem des Arbeitermangels zur Erntezeit und weiter das der Fürsorge für die weichenden Geschwister. Damit hängt hier auch zum Teil die Frage der ländlichen Hausindustrie zusammen. So haben wir hier also ein besonders grosses Arbeitsfeld für die ländliche Wohlfahrtspflege. Es ist zweifellos im ganzen grösser und lohnender und vor allem eigenartiger als in dem andern Gebiet.

Da sich nun aber die Landflucht, deren Bekämpfung die ländliche Wohlfahrtspflege bezweckt, zuerst und hauptsächlich in den Kreisen der ländlichen Arbeiter entwickelt hat, ist – wie schon betont – die ländliche Arbeiterfrage das erste und wichtigste Problem auch für die ländliche Wohlfahrtspflege. Sie hat ein doppeltes Gesicht, je nachdem wir sie mit den Augen des Arbeitgebers oder des Arbeiters ansehen: für jenen besteht sie im Arbeitermangel, für diesen in den Mängeln des Arbeitsverhältnisses. Heute erstreckt sie sich so ziemlich auf ganz Deutschland, aber ihre Heimat hat sie doch historisch, wie gezeigt, im Gebiet des Nordostens, und hier ist sie in ihrer doppelten Gestalt vorhanden – die erste als eine Folge der zweiten –, während sie in den übrigen Gebieten der deutschen Agrarverfassung in der Hauptsache nur die erste Form aufweist und auch in dieser Beziehung im ganzen geringer als dort und im einzelnen um so geringer ist, je mehr die durchschnittliche Betriebsgrösse der Landwirtschaft in diesen Gebieten gegenüber jenen abnimmt. Für die ländliche Wohlfahrtspflege hat also vor allem die Landarbeiterfrage des Nordostens Bedeutung.

Sie besteht, ähnlich wie bei der modernen gewerblichen Arbeiterfrage der Industrie, darin, dass mit der Entstehung der Grossbetriebe und der Beseitigung ihrer unfreien Arbeitsverfassung durch die Bauernbefreiung eine grosse Klasse von Arbeitern entstanden ist, die ihr Leben lang Arbeiter bleiben müssen und keine Möglichkeit zum sozialen Aufsteigen besitzen. Die Folge war die starke Auswanderung und Abwanderung gerade aus diesen Kreisen trotz gestiegener Löhne und die Notwendigkeit, sie durch ausländische Wanderarbeiter zu ersetzen, welche die Lebenshaltung der einheimischen weiter herabzudrücken drohten und zugleich eine nationale Gefahr für das Deutschtum wurden. Was hat nun die ländliche Wohlfahrtspflege dieser Frage gegenüber zu tun? Wenn Wohlfahrtspflege, wie wir sagten, die Fürsorge anderer Klassen, zunächst die der Arbeitgeber für ihre Arbeiter, bedeutet, so ist diese hier wie in der Industrie von grösster Bedeutung und zwar eben besonders im Nordosten gegenüber den auf den grossen Gütern beschäftigten Gutstaglöhnern, und das erste Gebiet, auf dem sie sich zu betätigen hat, ist auch hier wie in der Industrie, die Wohnungsfrage. Die Wohnungsfrage auf dem Lande unterscheidet sich von der in der Stadt im wesentlichen dadurch, dass dort nur ihre eine Seite – die Wohnungsmängel – vorhanden ist, dagegen die andere, in der Stadt wichtigere, der Wohnungsmangel fehlt. Es handelt sich also vor allem hier um die Beseitigung der früher überwiegend schlechten, zum Teil menschenunwürdigen Katen, in welchen die Gutstaglöhner auf den grossen Gütern des Nordostens wohnten, durch allmähliche Umgestaltung der alten und den Bau von gesundheitlich, sittlich und künstlerisch einwandfreien neuen Wohnungen. Dafür ist im Gegensatz zur Industrie die Selbsthilfe der Arbeiter hier kaum von Bedeutung, weil sie dazu im allgemeinen nicht fähig sind, die Hauptaufgabe obliegt dem Arbeitgeber, auf dessen Grund und Boden die Arbeiter aus Zweckmässigkeitsgründen doch am besten wohnen, und diese Arbeitgebertätigkeit unterliegt hier auch nicht den gleichen Bedenken wie bei der Industrie, da eine gleiche Freizügigkeit praktisch doch nicht besteht. Seitens fortgeschrittener grosser Arbeitgeber ist auf diesen Gebieten neuerdings auch schon Erhebliches geleistet worden. Daneben kommt dann noch die Errichtung von Arbeiterwohnungen durch Behörden, insbesondere durch die Kreise, in Frage, welche sich aber in der Regel mit der noch zu besprechenden Ansässigmachung der Arbeiter auf einem kleinen Gut verbindet. Dagegen ist die Mitwirkung von gemeinnützigen Vereinen zur Förderung des Kleinwohnungswesens und von Behörden durch Unterstützung in technischer und namentlich künstlerischer Beziehung von grosser Wichtigkeit. Ausserdem handelt es sich hier wohl noch erheblich mehr als beim industriellen Arbeiter auch vor allem um Erziehung der Arbeiter selbst zur Schätzung besserer Wohnungen.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/88&oldid=- (Version vom 13.11.2021)