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das Gras und wie die Blume auf dem Felde; wenn der Glutwind der Wüste darüberzieht, so welkt das Gras und die Blume verfällt und der Ort, da sie wuchs, kennet sie nicht mehr. Allmacht des Menschen? – und der Psalmist sagt: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst“ (Ps. 8, 5), und der große Prediger des Alten Bundes klagt: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibet nicht“ (Hiob 14, 1.2). Alle Größe des Menschen trägt in sich das Geheimnis der Vergänglichkeit, alle Herrlichkeit das Gepräge des Todes und, was er für die Ewigkeit ersann, entführt die eilende Stunde. Und doch, dieser arme Mensch, den ein einziger Luftzug entwurzeln und entführen kann, hat eine furchtbare Allmächtigkeit.

 Schon da hebt seine Allmacht an, wenn der Prophet spricht: „Das Menschenherz ist ein trotzig und verzagt Ding, wer kann es ergründen?“ (Jer. 17, 9). Alle Wissenschaft der Welt, alle Denkgröße ihrer Meister, alle Gedankenfülle ihrer Denker reicht nicht dazu, um die Geheimnisse des Herzens eines armen Bettlers zu entriegeln und zu entsiegeln. So abgrundtief ist die Gedankenwelt auch des Armen, so ungründig gehen die Gedanken hinab, daß kein Menschenmeister sie entziffern und erkennen kann. „Ich, der Herr, kann es“ (Jer. 17, 10). Aber es ist, als ob der Herr die Menschen aufforderte, an die Grenze der Allmacht zu kommen, wenn er durch den Propheten sagen läßt: Der Herz und Nieren prüft, spricht: „Ich kann es.“

 Und dann steigt die Allmächtigkeit des Menschen, wenn der Herr unter Tränen bitteren Leides und der Enttäuschung seiner Hoffnungen vor den Toren Jerusalems klagt: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/55&oldid=- (Version vom 1.8.2018)