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der litterarischen Gattung anzuerkennen. Und doch ist das für die griechische Litteratur der Kaiserzeit mit Händen zu greifen. Arrian ist ein tüchtiger Bithyner, ein ordentlicher Soldat dazu, und mit Recht ist er doch als ein chamäleonhafter Stilist bezeichnet worden, der mindestens auf vier ganz verschiedene Weisen geschrieben hat. Aristides ist ein strenger Classicist, aber wenn er eine Monodie macht, so muss er singen, das liegt darin; und wenn er eine Grabrede hält, so muss er heulen, das liegt auch darin; sollen wir dann sagen, er redete asianisch[1]? Es ist eine vollkommene Verkennung der geltenden stilistischen Gesetze, wenn man die Gegensätze innerhalb der Werke des Plutarch und Lukian auf eine stilistische Entwicklung der Personen zurückführt, die höchstens darin liegen kann, dass die Schriftsteller zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gattungen pflegen. Die εἴδη der Prosa sind eben starr und fest geworden, wie es seit 500 Jahren die der Poesie waren, und ein jeder, der eine ἔκφρασις oder eine προλαλιά oder eine διάλεξις verfasst, ist gehalten, bestimmte Farben und Stimmungen zu wählen, ganz wie es für Tragödie und Komödie gefordert war. Innerhalb derselben Gattung aber, und ganz besonders in der eigentlichen Beredtsamkeit, stehen noch die verschiedenen, aber auch längst fest ausgearbeiteten Stilarten (γένη, σχήματα, ζῆλοι, χαρακτῆρες, ἰδέαι zu verschiedenen Zeilen genannt) zur Wahl. Man kann grossartig oder einfachlich, herb oder süss, weltmännisch oder naiv (πολιτικῶς oder ἀφελῶς) schreiben, so weit nicht auch hier die bestimmte Aufgabe (Grabrede z. Β. oder Hochzeitsrede) das eine oder andere forderte. Was Norden asianisch nennt, ist meistens das süsse oder blumige oder auch das erhabene.[2] Der einzelne Redner mochte sich nach eigener Neigung oder mit Rücksicht auf den Geschmack des Publicums für diesen, oder jenen Charakter entscheiden, und er mochte das Charakteristische mit mehr oder weniger Geschick und Mässigung anwenden; das wird Unterschiede hervorrufen, die zu bemerken unsere Ohren sicherlich sehr viel weniger fein sind, als die des zeitgenössischen Publicums: an den Stilprincipien und ihrer strengen Verbindlichkeit ändert das nichts, und so ähnlich zu verschiedenen Zeiten die Prädicate des Lobes und des Tadels klingen, die Objecte werden durch


  1. Norden thut das wirklich I 420.
  2. Wenn ich ein Sophist wäre, würde ich π. ὕψους in seinen ὑψηλά als asianisch demonstriren.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_026.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)