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314 Elementarl. II. Th. II. Abth. I. Buch. 314

verband. Ich merke nur an: daß es gar nichts ungewöhnliches sey, so wol im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äussert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte.

 Plato bemerkte sehr wol, daß unsere Erkentnißkraft ein weit höheres Bedürfniß fühle, als blos Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabiren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkentnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kan, iemals mit ihnen congruiren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges blosse Hirngespinste seyn.

 Plato fand seine Ideen vorzüglich in allem was praktisch ist,[1] d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrer Seits

unter

  1. Er dehnte seinen Begriff freilich auch auf speculative Erkentnisse aus, wenn sie nur rein und völlig a priori gegeben waren, so gar über die Mathematik, ob diese gleich ihren Gegenstand nirgend anders, als in der möglichen Erfahrung hat. Hierin kan ich ihm nun nicht folgen, so wenig als in der mystischen Deduction dieser Ideen, oder den Uebertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypostasirte; wiewol die hohe Sprache, deren er sich in diesem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wol fähig ist.
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_314.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)