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383 I. Hauptst. V. d. Paralogismen d. r. Vernunft. 383

 Wozu haben wir wol eine blos auf reine Vernunftprincipien gegründete Seelenlehre nöthig? Ohne Zweifel vorzüglich in der Absicht, um unser denkendes Selbst wider die Gefahr des Materialismus zu sichern. Dieses leistet aber der Vernunftbegriff von unserem denkenden Selbst, den wir gegeben haben. Denn weit gefehlt, daß nach demselben einige Furcht übrig bliebe, daß, wenn man die Materie wegnähme, dadurch alles Denken und selbst die Existenz denkender Wesen aufgehoben werden würde, so wird vielmehr klar gezeigt: daß, wenn ich das denkende Subiect wegnehme, die ganze Cörperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subiects und eine Art Vorstellungen desselben.

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 Dadurch erkenne ich zwar freilich dieses denkende Selbst seinen Eigenschaften nach nicht besser, noch kan ich seine Beharrlichkeit, ia selbst nicht einmal die Unabhängigkeit seiner Existenz, von dem etwanigen transscendentalen Substratum äusserer Erscheinungen einsehen, denn dieses ist mir, eben sowol als ienes, unbekant. Weil es aber gleichwol möglich ist, daß ich anders woher, als aus blos speculativen Gründen Ursache hernähme, eine selbstständige und bey allem möglichen Wechsel meines Zustandes beharrliche Existenz meiner denkenden Natur zu hoffen, so ist dadurch schon viel gewonnen, bey dem freien Geständniß meiner eigenen Unwissenheit, dennoch die dogmatische Angriffe eines speculativen Gegners abtreiben zu können, und

ihm
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_383.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)