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sein Verhältniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit, in Ansehung deren dasselbe grösser ist als alle Zahl, gedacht. Nachdem die Einheit nun grösser oder kleiner angenommen wird, würde das Unendliche grösser oder kleiner seyn, allein die Unendlichkeit, da sie blos in dem Verhältnisse zu dieser gegebenen Einheit besteht, würde immer dieselbe bleiben, obgleich freilich die absolute Grösse des Ganzen dadurch gar nicht erkant würde, davon auch hier nicht die Rede ist.

 Der wahre (transscendentale) Begriff der Unendlichkeit ist: daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet seyn kan[1]. Hieraus folgt ganz sicher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf einander folgenden Zustände bis zu einem gegebenen (dem gegenwärtigen) Zeitpuncte nicht verflossen seyn kan, die Welt also einen Anfang haben müsse.

 In Ansehung des zweiten Theils der Thesis fällt die Schwierigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe, zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung nach, unendlichen Welt ist zugleich gegeben. Allein, um die Totalität einer solchen Menge zu denken, da wir uns nicht auf Gränzen berufen können, welche diese Totalität von selbst in der Anschauung ausmachen, müssen wir von unserem Begriffe Rechenschaft geben, der in solchem Falle nicht vom Ganzen zu der bestimten Menge der Theile gehen kan, sondern die Möglichkeit eines Ganzen durch die successive Synthesis der Theile darthun muß. Da diese Synthesis nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen müßte: so kan man sich nicht vor ihr, und mithin auch nicht durch sie, eine Totalität denken. Denn der Begriff der Totalität selbst ist in diesem Falle die Vorstellung einer vollendeten Synthesis der Theile, und diese Vollendung, mithin auch der Begriff derselben ist unmöglich.


Der

  1. Dieses enthält dadurch eine Menge (von gegebener Einheit) die grösser ist als alle Zahl, welches der mathematische Begriff des Unendlichen ist.
Empfohlene Zitierweise:
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_432.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)