Seite:Keyserling Wellen.pdf/224

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bleiben, Doralice und er saßen bei der Lampe, sie versuchte zu nähen, er las. „Willst du nicht laut lesen?“ fragte Doralice.

„O gewiß, wenn dir das angenehm ist,“ erwiderte Hans höflich, „aber es ist Homer.“

„Das tut nichts,“ meinte Doralice.

Hans las die Beschreibung von Alkinoos’ Garten:

„Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel,
Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen schrumpfen auf Feigen.“

Er gab dem Klang der Verse ein eintöniges Rollen, ein wellenhaftes Auf- und Abschwellen, das Doralice in eine köstliche Ruhe wiegte. Sie warf ihre Arbeit fort, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Sie erwachte davon, daß Hans ihr leicht über das Haar strich. „Du bist müde, Kind, du mußt schlafen,“ sagte er. Seine Stimme klang seltsam weich und ergriff Doralice so stark, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Hans bemerkte es nicht, er zündete die Kerzen an, löschte die Lampe aus und sagte gute Nacht.

Doralicens Nächte waren in letzter Zeit unruhig. Sie lag lange wach und horchte auf all

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Eduard von Keyserling: Wellen. S. Fischer, Berlin 1920, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Wellen.pdf/224&oldid=- (Version vom 1.8.2018)