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verbüßen läßt, der demütigt ihn. Mit welchem Recht stößt er ihn ab? Wenn es sich nicht um ganz schwere Fälle handelt, was immerhin nachzuprüfen ist, so spricht nichts, aber auch gar nichts dafür, daß der Zuchthäusler auch nur im kleinen Fingernagel schlimmer sei als irgendein Proletarier, der säuft, arbeitsscheu ist und nur eben bisher von der letzten Konsequenz, ein Verbrechen zu begehen, aus irgendwelchen Gründen zurückgescheut ist. Der Zuchthäusler ist gedemütigt, in seinem Stolz tausendmal zerschlagen, durch die fürchterliche Sexualnot langer Jahre zermürbt, sie haben ihm zehnmal am Tage das Rückgrat gebrochen; man braucht nur zu sehn, wie dieser Staat, der soviel Geld für seine Reichswehr, für seine Gasfabriken und für seine Verwaltungskindereien übrig hat, die Gefangenenwärter bezahlt, aus welchen Kreisen sich die rekrutieren und welche Bildung und Vorbildung sie haben … man braucht nur einen Blick in diese Muffhölle zu tun, um zu verstehen, was es heißt, deren Opfer zu sein. Es gibt schlimmeres als körperliche Prügel.

Und das ist die zweite schwere Schuld der arbeitenden Kleinbürger: sie zerstören durch ihre Intoleranz seelische Werte, die man nutzbar machen könnte.

Sicherlich geht es manchmal schief. Es ist durchaus möglich, daß der unvorbestrafte Steinhauer Schulze die Arbeitsbude in Brand steckt und den Vorarbeiter erschlägt; die Chance, daß der „ehemalige Zuchthäusler“ es tut, ist fast immer viel kleiner als man gemeinhin denkt.

Die oft geübte Praxis, entlassene Strafgefangene überhaupt nicht oder als zweitklassige Menschen zu beschäftigen, ist grausam, unsozial und falsch.

„Also sollen die ehemaligen Zuchthäusler genau so behandelt werden, wie alle andern Arbeiter und Angestellten auch – ja, wozu führt man sich denn dann sein ganzes Leben lang gut –?“

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_085.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)