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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller

Lichtlein leuchten lassend, er lastete nicht auf der Gesellschaft. Allerdings ging er nur in wenige vertraute Häuser. Ich glaube übrigens keineswegs, daß etwa der Wein daran schuld war, daß Sp. einst in Kaltenleutgeben, längs des Baches (der »Kalte Gang« heißt er) heimwärts wandernd, die Herrschaft über sein Gleichgewicht verlor und in den Bach fiel. Ein Schrecken ging durch die ganze Ortschaft, so daß der Vizebürgermeister tags darauf eigens nach Wien reiste, bei Sp. Audienz nahm und sich und Kaltenleutgeben und den Bach in aller Form entschuldigte. Es sei nicht gern geschehen. Sp. war eben schon damals ein schwerer Körper, der all die Leiblichkeit nicht immer in der Gewalt hatte. Später wurde er noch umfangreicher und schwerfälliger; Krankheitszustände hinderten ihn oft Bewegung zu machen. Noch ein Jahr vor seinem Tode fiel er auf seinem eigenen Hausgang im Dunkeln kopfüber zehn Stufen hinab, merkwürdigerweise ohne Schaden zu nehmen.

Einige Jahre vor seinem Ende verzog Sp. aus jener Strohgasse des dritten Bezirkes, wo der dritte Stock ihm unerklimmbar geworden. Hohe Warte Nr. 48 war die neue Adresse. Ein Hochparterre, mit parkartigem Garten dahinter und Aussicht über Wien hinweg, das taugte nun. Auf dem Wege hinaus kommt man in der Nußdorferstraße an Schuberts Geburtshaus vorbei, mit der kleinen weißen Büste über dem Haustor. Ein paar hundert Schritte jenseits seines neuen Heims senkt sich die Straße nach Heiligenstadt hinab, Beethovenschen Angedenkens. Auch früher hatte er diese Schubert-Beethovensche Seite Wiens bevorzugt. Sonnige Rebenhügel, mit kühlen Felsenkellern in ihren Flanken, mit Lerchen und Echos klassischer Musik drüber hin. In Sievering hatte er häufig die Sommerwohnung bezogen, von deren ansteigendem Garten aus der Blick nach jener Irrenpension streift, wo Nikolaus Lenau gestorben ist. Selbst sein Hausarzt war der Sieveringer Dr. Schatzl, der sein volles Vertrauen verdiente; er ist übrigens auch Maler, in Nebenstunden. Und in Sievering ist er ja nun auch begraben. Zu Badereisen und entlegeneren Sommerfrischen (wiederholt Mattighofen in Oberösterreich) schwang er sich nicht mehr auf. Er war schwer beweglich geworden, und es war schon ein Ausflug, wenn er voll ausgerüstet eine Bank in der Allee vor dem Hause aufsuchte. Daheim saß er den ganzen Tag im Großvaterstuhl, dessen hohe geschnitzte Lehne hinan das Enkelknäblein gewagte Kletterpartien machte, um einen Gutenachtkuß anzubringen. So klettert man später nach Edelweiß. In seinem gelben Kamelhaarschlafrock, den im Sommer ein weißleinener ersetzte, saß der alte Herr mächtig da. Wuchtig und massig wie ein Block. Im Lehnstuhl wurde er von Zimmer zu Zimmer geschoben, bis Benedikt, der Herausgeber der »Neuen Freien Presse«, ihn mit einem gediegenen Rollstuhl überraschte. Das Herz litt bereits und mehrmals traten leichte Lähmungserscheinungen auf. Er las viel; bis zuletzt ohne Brille, deren er aber für die Ferne bedurfte. Schwere wissenschaftliche Literatur, mit der ihn Verehrer versorgten; aber auch leichte Büchlein des huldigenden Nachwuchses blätterte er an. Am meisten doch seine Alten: Goethe, Hamann, die Bibel. Auf einem alten Nähtischchen war immer eine Menge Tageslektüre aufgestapelt. Er hatte hinreichend Besuch von Freunden oder von deren Witwen. Die der Burgschauspieler Robert und Mitterwurzer waren ihm besonders anhänglich. Frau Mitterwurzer zuliebe

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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller. Reimer, Berlin 1908, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Speidel,_Schriftsteller.pdf/30&oldid=- (Version vom 1.8.2018)