Seite:Moerike Schriften 2 (1878) 067.jpg

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Mein Frohmuth trieb mich aus dem Bette, so früh es auch noch war. Ich zog mich an und pfiff dabei vergnüglich in Gedanken. Von ungefähr kam mir mein leerer Beutel in die Hand, und in der That ich konnte ihn dießmal mit größter Seelenruhe betrachten. An seinem ledernen Zugbande hing ein alter, schlichter, oben und unten offener Fingerhut, den ich als ehrwürdigen Zeugen einer kindlichen Erinnerung seit vielen Jahren aus Gewohnheit, um nicht zu sagen aus Aberglauben, immer bei mir trug. Indem ich ihn so ansah, war’s als fiel’ es mir wie Schuppen von den Augen; ich glaubte mit Einmal zu wissen, warum mir Josephe so äußerst bekannt vorgekommen, ja was noch sonderbarer – ich wußte wer sie sei! „Bei allen Heiligen und Wundern!“ rief ich aus, und meine Kniee zitterten vor Schrecken und Entzücken: „es ist Aennchen! mein Aennchen und keine Josephe!“

Es drang mich fort, hinunter: unwissend, was ich wollte oder sollte, schoß ich, baarfüßig, wie von Sinnen, den kalten Gang vor meinem Zimmer auf und nieder; ich preßte, mich zu fassen, die Hand auf meine Augen – „Sie kann’s nicht sein!“ rief ich, „du bist verrückt! ein Zufall hat sein Spiel mit dir – und doch …“ Ich hatte weder Ruhe noch Besinnung, alle die Wenn und Aber, Für und Wider

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_067.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)