Seite:Oberamt Gmuend 204.jpg

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Karl Eduard Paulus der Ältere unter Mitarbeit von seinem Sohn Eduard und – für das Geschichtliche – von Hermann Bauer: Beschreibung des Oberamts Gmünd

Von Kapellen stehen noch:

1. Die Kapelle zur Herrgottsruhe am Friedhofe, eines der merkwürdigsten Bauwerke in einem aus Gothik und Renaissance gemischten Stile; es besteht aus einem hohen, achteckigen, netzgewölbten Chorbau, an den gegen Westen ein quadratischer, von einem Rippengewölbe überspannter Vorraum stößt; so war die ursprüngliche Anlage, später wurde noch ein Quadrat mit rippenlosem Kreuzgewölbe vorgebaut. Die Kapelle ward auf Stadtkosten von Caspar Vogt erbaut. Der achteckige Chor zeigt außen über einem Unterbau mit gothischen Strebepfeilern ein hohes, von zarten jonischen Pilastern an den Ecken gefaßtes und von gothischen Maßwerkfenstern durchbrochenes Geschoß, geschlossen von einem vollständigen Gebälk mit geschmackvoll verziertem Friese. Das Dach ist glockenförmig; die alten Fenster des westlichen Baues sind verschwunden. Im Inneren hat der Chorbau ein reiches Sterngewölbe, dessen Rippen nach Art der in der h. Kreuzkirche sich alle überschneiden; auf dem Schlußstein ist der Reichsadler, auf dem der Vorhalle das Einhorn (Wappen der Stadt) darstellt. An der Südwand findet sich eine Inschrifttafel, die über die Erbauung der Kapelle Nachricht giebt, mit der Jahrszahl 1622 und dem Namenszeichen des Baumeisters C. V. (Caspar Vogt). C. Vogt war unstreitig der bedeutendste Baumeister Gmünds im 17. Jahrhundert; er starb den 22. März 1646, im 60. Jahre seines Alters, und im 36. seines Kirchenmeisteramtes. Der in guter Renaissance gehaltene Altar enthält ein treffliches Gemälde, die Kreuztragung. Links im Triumphbogen ist ein aus alter Zeit stammendes Holzbild, die h. Anna mit Christus und Maria, angebracht.

An der südlichen Außenseite der Kapelle befindet sich eine Tafel mit der Jahrszahl 1622, auch ist daselbst eine Inschrift angebracht, die nachweist, daß den 13. Mai 1827 die Hochfluthen der Rems bis an den 7′ 5″ über der Erdfläche angezeichneten Strich gestiegen seien. Die Unterhaltung der Kapelle hat die Stadtgemeinde.

Die Volkssage erzählt. Ein armer Geiger klagte einmal vor einem Marienbilde in dieser Kapelle seine Noth; dann spielte er auf seiner Geige so rührend dazu, daß das heilige Bild sich bewegte und ihm einen von seinen goldenen Pantoffeln zuwarf. Als der Geiger den Pantoffel verkaufen wollte, ward er verhaftet und als Kirchenräuber zum Tode verurtheilt. Er bat alsdann um die Gnade, daß er vor seinem Tode noch einmal vor dem Marienbilde spielen dürfe, was ihm gestattet wurde. Viel Volk hatte sich versammelt; und als er sein letztes Stück ausgespielt hatte, da bewegte das Gnadenbild sich abermals und warf ihm auch den anderen Pantoffel hin, woraus das Volk unter großem Jubel die Unschuld des armen Geigers erkannte und ihm gern die goldenen Pantoffeln ließ. Noch in diesem

Empfohlene Zitierweise:
Karl Eduard Paulus, Eduard Paulus, Hermann Bauer: Beschreibung des Oberamts Gmünd. Stuttgart: H. Lindemann, 1870, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Oberamt_Gmuend_204.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)