Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/290

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
KAPITEL V
DIE SPRACHE UND DER AUSDRUCK DER REINEN BEZIEHUNGSFORMEN. – DIE URTEILSSPHÄRE UND DIE RELATIONSBEGRIFFE

Von der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschauung, von der Anschauung zum begrifflichen Denken und von diesem wieder zum logischen Urteil führt für die erkenntniskritische Betrachtung ein stetiger Weg. Die Erkenntniskritik ist sich, indem sie diesen Weg durchmißt, bewußt, daß die einzelnen Phasen desselben, so scharf sie in der Reflexion voneinander geschieden werden müssen, doch niemals als voneinander unabhängige, losgelöst existierende Gegebenheiten des Bewußtseins anzusehen sind. Vielmehr schließt hier nicht nur jedes komplexere Moment das einfachere, nicht nur jedes „spätere“ Moment das „frühere“ ein – sondern umgekehrt ist auch jenes in diesem vorbereitet und angelegt. Alle Bestandteile, die den Begriff der Erkenntnis konstituieren, sind wechselseitig aufeinander und auf das gemeinsame Ziel der Erkenntnis, auf den „Gegenstand“ bezogen: die genauere Analyse vermag daher in jedem einzelnen von ihnen schon den Hinweis auf alle übrigen zu entdecken. Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung „verbindet“ sich hier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie ist selbst schon eine solche Grundfunktion – sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt. Es ist zu erwarten, daß auch in der Sprache sich dieselbe unlösliche Korrelation der geistigen Mittel, mit denen sie ihre Welt aufbaut, bewähren wird, daß auch hier jedes ihrer besonderen Motive schon die Allgemeinheit ihrer Form und das spezifische Ganze dieser Form in sich schließen wird. Und dies bewährt sich in der Tat darin, daß nicht das einfache Wort, sondern erst der Satz das eigentliche und ursprüngliche Element aller Sprachbildung ist. Auch diese Erkenntnis gehört zu den fundamentalen Einsichten, die

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/290&oldid=- (Version vom 19.3.2023)