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aber die Selbstherrin über die Triebe.
So sieht man fürs erste aus der zügelnden Tätigkeit der Mäßigung,
daß die Vernunft Selbstherrin über die Triebe ist.

31
Mäßigung ist also Beherrschung der Begierden.
32
Von den Begierden aber sind die einen seelisch, die anderen leiblich,

und klar ist, daß die Vernunft über beide herrschen kann.

33
Wie käme es sonst,

daß wir uns zwar zu den verbotenen Speisen hingezogen fühlen,
aber die Freuden, die sie verheißen, verabscheuen?
Nicht deshalb, weil die Vernunft die Gelüste beherrschen kann?
Ich für meinen Teil glaube es.

34
Wenn es uns auch nach Wassertieren, Vögeln, Vierfüßlern,

kurz, nach mancherlei, uns vom Gesetz verbotenen Speisen gelüstet,
dann enthalten wir uns doch wegen der Übermacht der Vernunft.

35
Denn die Triebe der Begierden werden

durch den enthaltsamen Verstand gehemmt und umgebogen,
ebenso alle Regungen des Leibes durch die Vernunft.


2. Kapitel: Fortsetzung der Betrachtung
1
Ist es auffallend,

daß der Seele Gelüste nach Schönheitsgenuß unterdrückt werden können?

2
Der keusche Joseph wird ja deshalb gepriesen,

weil er durch die Vernunft die Wollust besiegte.

3
Denn obschon er ein Jüngling und in voller Reife für den Verkehr war,

unterdrückte er doch durch die Vernunft den Stachel der Triebe.

4
Natürlich unterdrückt die Vernunft nicht bloß den Wollustreiz,

sondern auch alle andern Begierden.

5
So sagt wenigstens das Gesetz:

„Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weib
noch irgendeiner Habe deines Nächsten!“

6
Aus dieser Tatsache, daß das Gesetz sagt,

wir dürfen uns nicht gelüsten lassen,
glaube ich, euch noch viel überzeugender beweisen zu können,
daß die Vernunft über die Begierden herrschen kann
wie auch über die Triebe,
die der Gerechtigkeit hindernd im Wege stehen.

7
Wie könnte sonst ein gewohnheitsmäßiger stiller Genießer

oder Schlemmer oder Säufer umgewandelt werden,
wenn nicht die Vernunft offenbar Herrin über die Triebe wäre?

8
Jedenfalls bezwingt ein Mensch, der nach dem Gesetz wandelt,

sofort sein eigenes Wesen,
sollte er auch geldgierig sein.
Er borgt den Bedürftigen ohne Zins,
auch wenn er das Darlehen wegen des Siebentjahres verlieren sollte.

9
Und ist jemand sparsam,

so läßt er sich vom Gesetz infolge der Vernunft beherrschen
und hält auf den abgeernteten Feldern keine Ährenlese