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noch in den Weinbergen eine Traubennachlese.
Auch an anderen Tatsachen erkennt man,
daß die Vernunft über die Triebe herrscht.

10
So ist das Gesetz auch stärker als die Liebe zu den Eltern;

denn es gibt ihretwegen nicht die Tugend preis.

11
Weiter ist es stärker als die Liebe zur Gemahlin;

denn es weist sie im Falle eines Vergehens zurecht.

12
Es ist auch stärker als die Liebe zu den Kindern;

denn es bestraft sie im Fall einer Schlechtigkeit.
Es ist endlich auch stärker als die Anhänglichkeit an die Freunde;
denn es gibt ihnen im Fall einer Bosheit einen Verweis.

13
Ihr dürft dies nicht für unglaublich halten;

denn die Vernunft kann durch das Gesetz sogar den Feindeshaß unterdrücken.

14
Sie unterläßt es, der Feinde Nutzbäume umzuhauen;

sie bewahrt das Vieh vor Räubern
und hilft dem zusammengebrochenen Vieh wieder auf.

15
Aber die Vernunft herrscht selbstverständlich auch über die roheren Triebe,

über Herrschsucht, Eitelkeit, Prahlerei, Hoffart und Verleumdung.

16
Der nüchterne Verstand verabscheut all diese unsittlichen Triebe ebensosehr

wie die Aufregung;
denn auch über diese kann er herrschen.

17
Moses wenigstens, in seiner Erregung über Datan und Abiron, unterließ es,

im Zustand der Aufregung etwas gegen sie zu unternehmen;
er zügelte vielmehr durch die Vernunft die Aufregung.

18
Der nüchterne Verstand ist ja, wie gesagt, imstande,

die Triebe zu besiegen;
er kann sie teils umstimmen, teils unterdrücken.

19
Weshalb beschuldigt denn sonst unser allweiser Vater Jakob

den Simeon und den Levi samt ihren Leuten,
daß sie in Unvernunft die Massenabschlachtung der Sichemiten vorgenommen hätten,
indem er sagt: „Verflucht sei ihre Erregung!“?

20
Könnte ja die Vernunft nicht die Erregungen beherrschen,

dann hätte er nicht so gesprochen.

21
Als Gott den Menschen schuf,

pflanzte er in ihn die Triebe und Neigungen.

22
Zu gleicher Zeit aber setzte er den Verstand

als ihrer aller heiligen Führer mitten unter den Sinnen auf den Thron

23
und gab ihm ein Gesetz,

dessen Befolgung ihm eine Königsherrschaft
voll Mäßigung, Gerechtigkeit, Güte und Starkmut verhieß.

24
Wie kommt es nun, könnte jemand einwenden,

daß die Vernunft zwar die Triebe,
nicht aber Vergessen und Nichtwissen beherrscht?


3. Kapitel: Fortsetzung der Betrachtung
1
Dies ist ein recht lächerlicher Einwand.

Natürlich beherrscht die Vernunft nicht ihre eignen Triebe,
sondern nur die Triebe,