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50. Kapitel: Annas Gebet
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Elchana hatte zwei Weiber;

die eine hieß Anna und die andere Phenenna.
Phenenna hatte Söhne, Anna dagegen keine.
So schmähte Phenenna sie und sprach:
Was frommt es dir, daß dich dein Mann Elchana liebt,
da du ein dürrer Baum bist?
Ich weiß weiterhin, daß er mich liebt;
denn er ergötzt sich beim Anblick meiner Söhne,
die ihn gleich einer Ölbaumpflanzung umstehen.

2
So machte sie ihr täglich solche Vorwürfe,

und Anna wurde recht betrübt,
fürchtete sie doch Gott von Jugend an.
Nun kam der gute Tag des Pascha heran.
Da ging ihr Mann zum Opfer hinauf.
Phenenna aber verhöhnte Anna mit den Worten:
Ein Weib ist nicht wirklich geliebt,
wenn nur ihr Mann sie oder ihre Schönheit liebt.
Anna rühme sich nicht ihrer Schönheit!
Wer sich rühmen will,
der rühme sich, wenn er seine Nachkommen vor sich sieht!
Findet sich bei Weibern keine Leibesfrucht vor,
dann ist die Liebe wertlos.
Was nützte es Rachel, daß Jakob sie liebte?
Wäre ihr keine Leibesfrucht geschenkt worden,
dann wäre ihre Liebe vergeblich gewesen.
Als dies Anna hörte,
ward ihre Seele mutlos und ihre Augen flossen in Tränen.

3
Da sah sie ihr Mann und fragte:

Warum bist du traurig? Warum issest du nicht?
Warum bricht dein Herz in dir?
Ist nicht dein Benehmen besser als Phenennas zehn Söhne?
Anna hörte auf ihn.
Dann erhob sie sich, nachdem sie gegessen,
und begab sich nach Silo
in des Herrn Haus, wo der Priester Heli saß;
ihn hatte Phinees, der Sohn des Priesters Eleazar, wie ihm befohlen ward, eingesetzt.

4
Anna betete und sprach:

Herr! Hast du nicht die Herzen der Geschlechter insgesamt gesehen,
bevor du nur die Welt gebildet hast?
Wo wird ein offener Mutterschoß geboren
oder wo stirbt ein geschlossener ab,
wenn du’s nicht willst?
Es steige mein Gebet jetzt vor dein Angesicht,
daß ich nicht leer von hier weggehe!
Du kennst mein Herz, wie ich vor deinem Angesichte wandelte
seit meiner Jugend Tagen.