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Die Horen - eine Monatsschrift, 1. Band

erstere hat gar keinen Punct im Gesichte, sondern zieht seine gerade Linie, welcher Punct auch immer hineinfallen möge.

Diesem Interesse für Wahrheit um ihrer blossen Form willen, ist gerade entgegengesetzt alles Interesse für den bestimmten Innhalt der Sätze. Einem solchen materiellen Interesse ist es nicht darum zu thun, wie etwas gefunden sey, sondern nur was gefunden sey.

Wir haben etwa einen Satz schon ehemals behauptet, vielleicht Beifall damit gefunden, und Ehre eingeärndtet, und meynten es damals aufrichtig. Damals war unsere Behauptung zwar nicht allgemeine Wahrheit, die sich auf das Wesen der Vernunft, aber doch Wahrheit für uns, die sich auf unsre damalige individuelle Denk- und Empfindungsart gründet. Wir irrten, aber wir täuschten nicht, weder uns noch andere. Seitdem haben wir entweder selbst weiter geforscht, wir haben unsere individuelle Denkart dem Ideale der allgemeinen und nothwendigen Denkart mehr genähert, oder auch andere haben uns unsern Irrthum gezeigt. Derselbe materielle Satz, der ehemals formale Wahrheit für uns war, ist uns jetzt, aus dem nemlichen Grunde, aus dem er dieses war, formaler Irrthum; und sind wir uns selbst treu, so werden wir ihn sogleich aufgeben. Aber dann müßten wir erkennen, daß wir geirrt haben; vielleicht, daß ein anderer weiter gesehen habe, als wir. Ist unser Interesse für Wahrheit nicht rein, und nicht stark genug, so werden wir gegen die auf uns eindringende Ueberzeugung uns vertheidigen, so lange wir können; und nun ist es uns nicht mehr um die Form zu

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: Die Horen - eine Monatsschrift, 1. Band. Cotta, Tübingen 1795, Seite 1-83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/99&oldid=- (Version vom 1.8.2018)