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zog und einen grossen Theil ihrer Neigung gewonnen hatte.

Bey dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die Ueberwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweytenmale möglich. Er sah Ottilien oft und gewann über sich, sie zu beobachten; er that freundlich ja zärtlich gegen sie, und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte Macht verlohren und er fühlte bald, daß selten bey ihr etwas aus dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend und abstoßend, angenehm und launisch seyn konnte. Sein Gemüth machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich auch noch die letzten Fäden entzwey zu reissen.

Diese Operation war schmerzhafter als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtniß zurück zu rufen, in denen sie beyde durch das zarteste Gefühl gedrungen, eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen zärtlich; er ward weicher und wünschte in diesem Augenblick, daß alles anders seyn möchte als er es sichs vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe die Stadt zu verlassen, sie lies

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 9-47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/257&oldid=- (Version vom 1.8.2018)