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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

in dem bekannten Osterliede war ihm unverständlich, darum sang er:

Trumfi! Trumfi! u. s. w.

Was sich der dumme Kerl dabei dachte, kann ich nicht sagen. Die Stelle

Immanuel und Friedefürst

aus dem Gellert’schen Weihnachtsliede „Dies ist der Tag, den Gott gemacht,“ veränderte er in

Immanuel und Freudenfürst,

und statt

So steht mein Geist vor Ehrfurcht still,
Er betet an und er ermißt,
Daß Gottes Lieb unendlich ist,

sang der blinde Ketzer:

Daß Gottes Leib unendlich ist.

Am schlimmsten aber war es, wenn sein Kollege, der Leine­weber Kern, in der Kirche erschien, was – zu seinem Lobe sei’s gesagt – recht regelmäßig geschah. Der arme Mann war ein hochgradiger Stotterer, wenn er aber sang, so war er dieses Gebrechens ledig. Zu allem Unglück hatte er ein Übermaß von Stimme bei gänzlichem Mangel an Gehör. Wenn es dann zum Singen kam, so stürzte er sich mit der ganzen Wonne einer befreiten Seele und mit einer Stimme wie ein Pumpenstrahl oder Wasserfall vom Chor auf die Gemeinde, und hob den Vorsänger dermaßen aus dem Sattel, daß er Text und Melodie unter den Füßen verlor und hilflos der Führung des Mächtigern sich überlassen mußte.

Doch all das, so störend es war, müssen wir noch nicht als das Schlimmste bezeichnen. Im lettischen Gottesdienst war’s doch noch immer eine Gemeinde, der man trotz aller großen, oft unglaublichen und schwer zu beseitigenden Unwissenheit doch eine Einheit des Glaubens und der Bruderliebe­

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/93&oldid=- (Version vom 15.9.2022)