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Schöpfungen Vittore Carpaccio’s, Carlo Crivelli’s, Giovanni da Udine’s und Pellegrino’s die Malerei emporblühen gesehen. Als der Meister Giovanni Bellini erstand, schien es nur noch eines letzten Aufschwunges zu bedürfen, damit in Venedig durch die Malerei die ewige Schönheit erreicht wurde, welche Rafael Santi in Rom, Michel Angelo in Rom und Leonardo da Vinci in Mailand offenbart hatten. Die Sterne Giorgione’s, Tizian Vecellio’s und Giovanni Antonio Lixinio Pordenone’s waren in Venedig aufgegangen, und diese drei Künstler schienen berufen, eine bisher in den großen Schulen Italiens noch nicht vertretene Richtung, die Darstellung eines wonnigen, irdisch-seligen Seins, die reizende, schöne Wirklichkeit zur Vollendung zu erheben.

Die ausgezeichneten Kunstkenner Venedigs prophezeihten dem Tizian: er werde den Lorbeer nicht allein von Bellini, sondern auch von seinen Altersgenossen Giorgione und Pordenone davon tragen; ein Urtheil, welches die Ursache wurde, daß Giorgione alle Verbindung mit Tizian aufhob und sich ihm gegenüber in eisiges, finsteres Schweigen hüllte, während da Pordenone, um einige Jahre jünger als Tizian, diesen mit aller Leidenschaft eines Italieners anfeindete und ersichtlich eine Gelegenheit aufsuchte, um durch seinen Stoßdegen seinen bittern Empfindungen gegen den ehemaligen Freund Luft zu machen.

An der Eifersucht dieser drei Künstler nahm ganz Venedig Theil. Man drängte sich in den Palästen der Grimani, Foscari, der Vedramini-Calergi und wie die Namen der reichen, kunstsinnigen Nobili weiter hießen, sobald ein neues Bild der anstrebenden Jünglinge sich den in den ernsten Sälen bereits prangenden Kunstschätzen angeschlossen hatte, um zu urtheilen, welcher der Meister im Augenblicke die Oberhand über die Nebenbuhler gewonnen habe. Tizian Vecellio errang die meisten und zuletzt alle Siege. Dieser Maler, obgleich nicht in Venedig selbst, sondern auf der Terra ferma in Capo del Cadore, in den Alpen von Friaul geboren, war so durch und durch Venezianer, daß seine Gemälde, außer ihren anderen Vorzügen, wie noch nie ein Meister es zu malen verstanden, das Charakteristische dieser stolzen, sinnlichen, leidenschaftlichen und feingebildeten Insulaner wiederspiegelten. Selbst das niedere Volk verstand daher die Schönheiten der Gemälde Tizian’s fast instinktmäßig. Dies zeigte sich höchst auffallend, als Tizian’s erstes größeres Oelbild, die Himmelfahrt der Maria in der Kirche der Minoriten, ausgestellt wurde. Noch nie hatte eine Madonna die Herzen der Venetianer so zu rühren vermocht, als diese wahrhaft venezianische Gottesmutter in ihrer irdischen Schönheit.

Tizian, der ausgezeichnetste Maler in Venedig, war zugleich der bescheidenste und offenste. Er gestand ohne Rückhalt, wie von seinem Lehrer Bellini das Zeichnen, so habe er das eigentliche Malen erst von Giorgione nicht gelernt, sondern abgesehen. Pordenone dagegen schwur, er werde Tizian erstechen, als dieser vor einem Bilde Pordenone’s arglos geäußert hatte: daß sein Nebenbuhler von ihm die Kunst, schöne, nicht manierirte Hände zu malen, entlehnen müsse, um tadellos zu sein. Seit dieser Zeit war Tizian dem Pordenone ausgewichen, eine Sanftmuth, die dieser als Feigheit zu bezeichnen sich nicht gescheut hatte. Pordenone sollte indeß bald in den Fall kommen, Tizian’s Entschlossenheit zu prüfen.

In einer herrlichen Sommernacht schlenderte Tizian, eine seiner vielen schönen Freundinnen, Signora Giuditta Farsani, die Tochter eines verarmten Nobile am Arm, über den Marcusplatz zur Piazetta. Den Gürtel mit Goldstücken gefüllt, durch eine meisterhafte Diana

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/310&oldid=- (Version vom 1.8.2018)