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die Stelle schlichter Einfachheit eine unrichtige Vermengung. Nach der Handschrift (die ich jetzt aber interpungiere) dichtet Runge zum Preise der Geliebten

O sie kömmt herunter zu dem Thale,
Alle Blumen kommen zu ihr hin,
Gräschen, Veilchen, Rosen, MaienGlöckchen
Grüßen kränzend ihre Königin,
Selbst das allerschönste Rosenstöckchen,

das heißt natürlich: die aufgezählten Blumen kommen und grüßen ihre Königin, die gleichsam selbst das allerschönste Rosenstöckchen ist. Diese Erklärung oder diese vom Dichter, wie ich glaube, gewollte Auffassung läßt unter den grüßenden Blumen die Rose mit Recht erscheinen: auch sie grüßt die allerschönste Rose, die zu dem Tale kommt. Setzen wir nun daneben die entsprechenden Zeilen der bisherigen Druckgestalt:

O sie kommt herunter zu dem Thale:
Alle Blumen streben zu ihr hin,
Gräschen, Veilchen, Primeln, Mayenglöckchen
Grüßen kränzend ihre Königin;
Selbst das allerschönste Rosenstöckchen.

Das Semikolon zeigt an, daß hier die letzte Zeile, abgetrennt von der Königin, für sich allein bestehen soll, und daß die Auffassung sei: „selbst das allerschönste Rosenstöckchen, als Blume in dem Thale, grüßt ihre Königin.“ Dann freilich durften, zwei Zeilen zuvor, die Rosen nicht schon auch genannt werden, und an ihre Stelle treten daher – die Primeln. Ebensowenig glücklich ist „streben“ als Ersatz für „kommen“ in der zweiten Zeile, offenbar nur um mit dem Ausdruck zu wechseln. Denn „streben“ ist blaß und unlebendig. Dagegen „kommen“ paßt ganz anders in die künstlerische Situation der Szene, wenn ich so sagen darf. Durch das „kommen“ werden die Blumen des Tales personifiziert, so daß sie wie schöne dienende Frauen der Königin entgegengehen. Aber dieser absichtliche und doch zerstörende Wechsel des Ausdrucks ist charakteristisch für die Druckgestalt, alles erscheint hier sprachlich „schön gemacht“, Fragen und Ausrufe unterbrechen den ruhigen Vortrag des Gedichtes, ein andrer Geist steckt in dem Ganzen: verschieden von der Einfachheit, die die handschriftliche Gestalt atmet und Runge, nach unserer Kenntnis seines Wesens, so wohlansteht. Ich verzichte auf weitere Hinweise im einzelnen, die sich leicht erbringen lassen, und sage, daß das Gedicht in den Hinterlassenen Schriften von Daniel Runge überarbeitet worden ist, und daß wir uns deshalb an die obige handschriftliche Form, als an die echte, zu halten haben. Es ist dem Lied also dasselbe, wie den Märchen vom Machandelboom und vom Fischer, zuteil geworden:

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zu Otto Runges Leben und Schriften. Fromme, Leipzig und Wien 1902, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Runges_Leben_und_Schriften.djvu/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)