Seite:Temme Die Volkssagen der Altmark 006.jpg

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Von diesem Roland gehen manche artige Sagen im Munde des Volkes.

Einst kam des Abends spät ein Bürger der Stadt Stendal aus einem Weinhause zurück, und wollte sich in seine Wohnung verfügen. Sein Weg führte ihn über den Markt. Er hatte des Guten ziemlich viel gethan, so daß er zwar nicht betrunken war, aber doch, wie man zu sagen pflegt, einen Spitz hatte. Er war deshalb auch in einer recht fröhlichen Laune, und als er beim Roland angekommen war, stieg ihm auf einmal der Uebermuth. Er stellte sich vor ihn hin und höhnte ihn und sprach: He, du alter trockner Mann da! Du steinerner Narr! Du tränkest auch wohl gern ein Gläschen Wein auf deinem kalten hohen Gerüste! Also sprach er viel, und dabei machte er Bockssprünge und schnitt dem Roland Gesichter zu, in seiner Weinlaune bei sich denkend: Der Alte ist ja von Stein, der sieht das nicht; und wenn er auch überhaupt sehen könnte, so ist es doch jetzt stockdunkle Nacht.

Der alte Roland hatte die Narrheiten lange mit seinem ernsten, strengen Gesichte angesehen. Aber auf einmal drehete der steinerne Riese sich auf seinem Gerüste rund herum, dem Narren den Rücken zu, als wenn er die Thorheiten nun nicht mehr ansehen könne. Da wurde der arme Bürgersmann vor Schreck urplötzlich nüchtern, und es überkam ihn eine solche Angst, daß er nicht von der Stelle weichen konnte. Er rief laut um Hülfe: „He dheit mi wat! he dheit mi wat!“ (Er thut mir was! er thut mir was!), und man mußte ihn fast krank nach Hause tragen. Der Roland stand am anderen Morgen wieder wie früher, sein großes steinernes Gesicht überschaute wieder den Marktplatz, als wenn nichts passirt wäre. Der Mann aber betrank sich in seinem Leben nicht mehr, und

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Jodocus Donatus Hubertus Temme: Die Volkssagen der Altmark. Nicolai, Berlin 1839, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Temme_Die_Volkssagen_der_Altmark_006.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)