Seite:Therese Stählin - Auf daß sie alle eins seien.pdf/112

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
An Schwester Elisabeth von Oldershausen, die bei einer Kranken im Süden ist.
Neuendettelsau, 21. Dez. 1893

 Meine liebe Elisabeth, wie muß es nur sein, wenn man Weihnachten bei warmem Sonnenschein feiert! Übrigens ist es auch bei uns nicht kalt. Ich machte heut morgen einen herrlichen Spaziergang in den Wald mit einer Schwester; wir waren ganz überwältigt von der Pracht der bereiften Bäume, auf denen das goldene Morgenlicht lag; wir stimmten an: „Wie wird’s sein, wir wird’s sein, wenn ich zieh in Salem ein, in die Stadt der goldnen Gassen!“ – Es ist doch zuweilen so, daß mitten in die Trübsal hinein uns Gott Freuden- und Hoffnungsstrahlen sendet.

 Heute ist St. Thomastag; da wurden in Weiltingen immer im Pfarrhaus Laiblein Brot ausgeteilt nach einer alten Stiftung. Die Assistenz dabei war schon die Weissagung auf meinen künftigen Diakonissenberuf. – Was war das für ein Jahr für uns! „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“, das wurde uns heute bei der Anmeldung gesagt. Es soll uns alles, alles, was wir erleben an Freud und Leid, so dienen, daß wir zueinander sagen wie dort Johannes: „Es ist der Herr.“

 Herr Diakonus Maier wird im März uns verlassen; er bekommt die Pfarrei Dombühl. Herr Rektor will, daß kein Diakonus mehr herkommt, sondern ein Vikar. Ich hoffe, daß dadurch die Stelle klarer und befriedigender wird. Auch denkt man daran, daß nach Bruckberg ein eigener Geistlicher soll. Das sind sehr ernste Fragen, vor denen wir stehen. Es soll auch Polsingen mehr mit hereingenommen werden, damit alle Isolierung möglichst vermieden wird. Herr Konrektor geht an Weihnachten nach Polsingen, weil der Pfarrer dort leidend ist. Es ist natürlich dort große Freude darüber; ein Pflegling sagte: „Ich schenk ihm zwei Zuckerstückchen (gewiß das größte Opfer!), daß er auch was hat...“

 Nun behüt Dich Gott. Wie viele Weihnachten werden wir noch erleben auf Erden? Und wie viele wird die Kirche überhaupt noch erleben, ehe der Herr kommt?

In treuer Liebe bleibe ich allezeit Deine Therese.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/112&oldid=- (Version vom 22.8.2016)