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Kultur des čechoslavischen Volkes in der vorgeschichtlichen Vergangenheit erbringen wollte, darf uns in Anbetracht ähnlicher Fälschungen in den anderen Literaturen derselben Zeit nicht befremden. Das Sammeln der wirklichen Volkspoesie geschah jedoch bald darauf mit einem Eifer, welcher, was das Volkslied anbelangt, wirkliche Kunstschätze an den Tag brachte, so dass die Sammlungen Kollárs aus der ungarischen Slovakei, Čelakovskýs und später Elbens aus Böhmen, wie die Sušils in Mähren bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer Offenbarung glichen.

Anders war es mit der volkstümlichen Prosa bestellt. Die ersten, in den Zeitschriften als Volksmärchen veröffentlichten Erzählungen sind auf den ersten Blick erkennbare naive Nacherzählungen von allgemein bekannten, wohl aus anderen Sprachen einfach »bearbeiteten« Märchenmotiven. Erst in den vierziger Jahren fangen die selbständigen und bis jetzt noch als echte Märchensammlungen zu bezeichnenden Bände von Němcová, Erben, Malý, Mikšíček zu erscheinen an. Die auch von Wollner zitierte »Kytice« von Erben ist zwar älteren Datums; es ist jedoch von vornherein ausgeschlossen, diese auf Sagen- und Märchenmotive komponierte Gedichtsammlung als ein Bild der volkstümlichen Dichtung aufzufassen und als Grundlage für wissenschaftliche Folgerungen zu benützen. Man weiss zwar von Erben selbst, dass er für seine Gedichte die dem Volke abgelauschte Tradition benützte, dass er selbst dann, wenn er, wie in den »Brauthemden« einer fremden Vorlage (Bürgers Lenore) folgte, aus den Quellen der einheimischen Volkspoesie schöpfte, alles dies jedoch, wenn es auch dem Autor den Ruhm einer bewunderungswürdigen Nachahmung des echten Volkstones sichert, berechtigt uns noch lange nicht, diese echte Kunst eines Dichters mit der echten Volkskunst zu verwechseln. Die »Kytice« verrät also bereits durch ihre äussere Form, dass sie als Werk der Kunstpoesie genossen werden will und jeder mit der Volkstradition und mit den verwandten Stoffen angestellte Vergleich kann nichts anderes als eben eine Studie aus der vergleichenden Literaturgeschichte bedeuten.

Die prosaischen Sammlungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind äusserlich, besonders für einen fremden Forscher, nicht so handgreiflich gekennzeichnet und es bedarf eines eingehenden Studiums, um auch da zu dem Schlusse zu

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Václav Tille: Das čechoslavische Märchen. Crosman & Svoboda, Prag 1907, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tille_Das_%C4%8Dechoslavische_M%C3%A4rchen.djvu/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)