Seite:Uber den Einfluss des Korsetts auf die somatischen VerhaltnissPage20.png

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hochgradiger Chlorose zeigte und an jenen wohlbekannten nervösen und zirkulatorischen Störungen litt, die sich haupt­sächlich in Neuralgien, Hemicranien, Schwindel, Frösteln, kalten Füßen u. ä. äußern.

Ehe ich zum Schlusse komme, möchte ich aber noch, gewissermaßen zur Ergänzung meiner Bilder und auf ihnen fußend, einen Symptomenkomplex besprechen, der wohl einige Aufmerksamkeit verdient. Ich meine nämlich die Art, wie eine Frau ihr Korsett an- und ablegt.

Sobald das Korsett vorne eingehakt ist, werden die Schnürbänder rückwärts ad maximum zugezogen und dann wird es an seinem vorderen unteren Rande erfaßt und nach abwärts gezogen. Hierauf legt die Frau ihre Hände auf die Hüften, um das Korsett zu fixieren, und nun beginnt sie sich mit kleinen Rotationsbewegungen der Lendenwirbelsäule aus dem Mieder herauszuheben. Dann werden die Strumpfbänder festgehakt und es erfolgt meist noch eine Bewegung, die ich eine diagnostische nennen möchte: in Profilstellung wird der eine Vorderarm aufs Kreuz gelegt, um zu prüfen, ob die Lordosenlinie auch einwandfrei gelungen ist.

Analysieren wir diesen Mechanismus, so wird er uns folgendermaßen verständlich: Die Taille stellt ein Oval dar, dessen Längsachse frontal steht. Durch die Einschnürung wird zunächst die Kreisform erzeugt, das Mieder drängt hiebei die Eingeweide größtenteils nach abwärts. Diese haben natürlich das Bestreben, in ihre frühere Lage zurückzukehren und hie­durch das Korsett in die Höhe zu schieben. Das wird durch die Befestigung der Strumpfbänder verhindert.

Nicht minder lehrreich und, ich möchte sagen, pathogno­stisch typisch ist die Art, wie sich die Frau des Korsetts entledigt.

Im Augenblicke, da das Mieder ausgehakt wird, erfolgen eine oder mehrere tiefe Inspirationen, die Wirbelsäule sinkt zusammen – besonders die Brustkyphose wird vermehrt ­– und die freie Hand beginnt unbewußt die Bauchdecken an den Stellen der größten Einschnürung zu reiben und zu kneten. Auch hiefür sind die Ursachen einleuchtend. Die tiefen In­spirationen entspringen dem Bedürfnisse, die so lange beein­trächtigte Zwerchfellatmung besser in Gang zu setzen. Das Zusammenknicken der Wirbelsäule rührt daher, daß die Rücken­muskeln im Korsett ebenso atrophisch geworden sind, wie etwa die Muskulatur eines eingegipsten Beines. Sie versagen den Dienst. Und die Massagebewegungen lassen sich jenen ver­gleichen, die ein Gefangener ausführt, wenn man ihm die Fesseln abnimmt: er will in den gedrückten Partien die Zirkulation wieder in Gang bringen.