Seite:Ueber die Liebe 011.jpg

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Die zweite Kristallbildung entscheidet über die Dauer der Liebe, weil man bei ihr in jedem Augenblick sieht, daß es sich darum handelt, geliebt zu werden oder zu sterben. Wie könnte nach jener ununterbrochenen, durch die Gewohnheit der Liebe schon eingewurzelten Überzeugung der Gedanke Raum gewinnen, von der Liebe zu lassen? Je stärker ein Charakter ist, um so weniger ist er der Wankelmütigkeit unterworfen.

Die zweite Kristallbildung fehlt in der Regel bei Liebeleien mit Frauen, die sich zu schnell ergeben.

Sobald die Kristallbildungen, besonders die zweite, stärkere, stattgefunden haben, ist der ursprüngliche Zweig den Augen Gleichgiltiger nicht mehr wahrnehmbar, denn

1. er ist mit Vorzügen oder Diamanten geschmückt, die sie nicht sehen,

2. er ist mit Vorzügen geschmückt, die für sie nicht vorhanden sind.

Ein früherer Freund seiner Geliebten rühmte jemandem die Vollkommenheit ihrer Reize. Dieses Lob und das lebhafte Aufflackern in den Augen des Freundes waren für ihn ein Diamant der Kristallbildung. Was er so in einer Abendgesellschaft erfuhr, umspann ihn eine ganze Nacht mit Träumen.

Eine offenherzige Antwort, die mir Einblick in eine zarte, edle, feurige, oder wie man gemeiniglich sagt, romantische Seele gewährt, die das harmlose Vergnügen, einsam mit der Geliebten um Mitternacht durch den Park zu wandeln, über das Glück aller Könige setzt, verführt auch mich eine ganze Nacht zu Träumereien.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_011.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)