Seite:Ueber die Liebe 021.jpg

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dem ungleichen Wesen der Hoffnung her. Auf der männlichen Seite haben wir den Angriff, auf der weiblichen die Verteidigung; dort Verlangen, hier Verweigern; dort Ungestüm, hier Ängstlichkeit.

Der Mann denkt: „Werde ich ihr gefallen? Wird sie mir ihre Liebe gewähren?“

Die Frau dagegen: „Sagt er mir nur zum Scherz, daß er mich liebt? Ist sein Charakter beständig genug? Kann er selbst für die Dauer seiner Gefühle bürgen?“ Deshalb betrachten und behandeln viele Frauen einen dreiundzwanzigjährigen Jüngling wie ein Kind. Wenn er sechs Feldzüge mitgemacht hat, ändert sich alles; dann ist er ein junger Held.

Beim Manne hängt die Hoffnung einfach vom Benehmen der Geliebten ab, das leicht zu deuten ist. Bei der Frau dagegen muß sich die Hoffnung auf eine Charakterbeurteilung des geliebten Mannes stützen, die richtig zu treffen überaus schwierig ist.

Die meisten Männer begehren ein Liebeszeichen, das ihnen genügt, um alle Zweifel zu verscheuchen. Die Frauen sind nicht so glücklich, solche Zeichen zu finden. Es ist das uralte Unglück des Lebens: was dem einen Sorglosigkeit und Glück bringt, bedeutet für den anderen Gefahr und Demütigung.

In der Liebe hat der Mann schlimmsten Falls mit heimlichem Seelenschmerz, die Frau aber mit dem allgemeinen Spott der Menge zu rechnen. Sie ist ängstlicher und das Gerede der Leute ist ihr viel wichtiger. Sie muß den bekannten Spruch von Beaumarchais beherzigen: „Sei schön, wenn du kannst; klug, wenn du willst; aber besonnen, das ist immer nötig.“

Sie hat kein sicheres Mittel, das Gerede der Leute

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_021.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)