Seite:Ueber die Liebe 041.jpg

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Allabendlich zwingt das Auftreten einer hübschen Tänzerin die blasierten und phantasiearmen Lebemänner, die den ersten Rang des Opernhauses zieren, zur vollen Aufmerksamkeit. Durch ihre anmutigen, kühnen und eigenartigen Bewegungen erregt sie die Liebe aus Sinnlichkeit und verschafft ihnen vielleicht die einzige Kristallbildung, deren sie überhaupt noch fähig sind. So kommt es, daß ein ganz garstiges Frauenzimmer, das auf der Straße von verwöhnten Männern keines Blickes gewürdigt wird, durch das immer wiederholte Auftreten auf der Bühne es zuwege bringt, reiche Liebhaber zu fangen. Geoffroy nannte darum die Bühne den Thronsessel der Weiber. Je bekannter und verbrauchter eine Tänzerin ist, um so teurer wird sie. Es gibt ein Kulissensprichwort: „Es will sie keiner geschenkt, so muß sie sich schon verkaufen.“ Diese Sorte von Weibern stiehlt ihren Liebhabern die Leidenschaft und erregt sehr leicht die Liebe aus Eitelkeit.

Es ist so natürlich, daß man edle und liebenswürdige Gefühle mit dem Wesen einer an und für sich nicht verletzenden Schauspielerin verknüpft, wenn man sie jeden Abend zwei Stunden lang die idealsten Gefühle ausdrücken sieht und sonst nichts von ihr weiß. Später, wenn man in Beziehungen zu ihr tritt, rufen ihre Züge immer wieder so angenehme Erinnerungen wach, daß sich die Wirklichkeit ihrer manchmal wenig vornehmen Umgebung augenblicklich mit einem rührenden, romantischen Zauber umhüllt.

Wenn ich als ganz junger Mensch, als mich noch die langweilige französische Tragödie begeisterte, das Glück hatte, mit Fräulein Olivier zu soupieren, ertappte

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_041.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)