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ich mich fortwährend dabei, daß mein Herz voll Verehrung schlug und ich mit einer Königin zu sprechen wähnte. Manchmal habe ich tatsächlich in ihrer Nähe nicht recht gewußt, ob ich in eine Königin oder in ein hübsches Mädchen verliebt war.


19. Kapitel

Vielleicht fühlen die Menschen, die zur Liebe aus Leidenschaft nicht fähig sind, die Wirkung der Schönheit am lebhaftesten. Wenigstens ist sie der stärkste Eindruck, den sie von einem Weibe empfangen können.

Ein Mann, der Herzklopfen hat, wenn er von weitem den weißseidenen Hut der Geliebten bemerkt, muß außerordentlich erstaunt sein, daß ihn die Begegnung mit der gefeiertesten Schönheit der Welt kalt läßt. Das Entzücken der anderen ärgert ihn fast.

Auffallend schone Frauen erregen schon am zweiten Tage nicht mehr die gleiche Bewunderung. Das ist ein großes Unglück für sie und schreckt die Kristallbildung ab. Weil ihre Vorzuge allen Menschen sichtbar und eine äußerliche Auszeichnung sind, zählen sie unter die Schar ihrer Anbeter, Prinzen, Millionäre u. s. w., recht viele Dummköpfe.


20. Von der ersten Begegnung

Ein phantasiereiches Gemüt ist feinfühlig und mißtrauisch, selbst wenn es sehr naiv ist. Es ist vielleicht mißtrauisch, ohne es selbst zu wissen. Es hat so viele

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_042.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)