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sie sie sich eingebildet haben. Sie wähnen etwas zu genießen, und doch erlaben sie sich nur an einem Trugbilde. Aber eines Tages werden sie es müde, immer nur die Geber zu sein, und sie entdecken, daß das angebetete Idol „den Ball nicht zurückwirft“. Das Vorurteil ist dahin, und die Niederlage, die ihre Eigenliebe erlitten hat, läßt sie nunmehr den überschätzten Gegenstand ungerecht beurteilen.


22. Vom Blitzschlage

Die Romane des siebzehnten Jahrhunderts bezeichneten mit „Blitzschlag“ eine seelische Erregung, die das Geschick des Helden und seiner Geliebten plötzlich und unabänderlich entscheidet.

Dieser Ausdruck ist eigentlich lächerlich, aber er meint etwas tatsächlich Vorhandenes.

Ich habe die liebenswürdige und vornehme Wilhelmine *** kennen gelernt. Sie war der angebetete Stern der Berliner Kavaliere und trotzdem sprach sie verächtlich von der Liebe und verspottete ihre Torheiten. Sie war umstrahlt von Jugend, Geist und Schönheit, ein Glückskind in jeder Beziehung; ein ungeheurer Reichtum gestattete ihr, alle ihre Eigenschaften frei zu entfalten, und schien, im Einvernehmen mit der Natur, der Welt ein seltenes Beispiel von vollkommenem Glücke und persönlicher Würdigkeit geben zu wollen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, ging seit Jahren bei Hofe ein und aus und hatte Persönlichkeiten von höchster Geburt abgewiesen. Ihre bescheidene und unantastbare Tugend war sprichwörtlich geworden.

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_047.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)