Seite:Ueber die Liebe 065.jpg

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die man sich dort öffentlich erlaubte, die nicht etwa einen rührenden Eindruck auf mich machten, sondern gerade entgegengesetzte Empfindungen verursachten. Nichts berührt peinlicher.

Man muß den Zwang der den Frauen unter dem Namen der Schadhaftigkeit anerzogenen Gewohnheiten als etwas Unberechenbares ansehen. Gewöhnliche Frauen erheucheln übergroßes Schamgefühl, um sich den Anschein vornehmer Damen zu verleihen.

Die Macht der Schamhaftigkeit ist so groß, daß sich eine zartfühlende Frau dem geliebten Manne eher durch Zeichen, als durch Worte verrät.

Die hübscheste, reichste und leichtlebigste Dame Bolognas erzählte mir gerade gestern Abend, daß ein geckenhafter Franzose, ein netter Vertreter seines Volkes, den Einfall gehabt habe, sich unter ihrem Bette zu verstecken. Wahrscheinlich wollte er seine zahllosen lächerlichen Liebeserklärungen, mit denen er die Dame seit einem Monate verfolgte, nicht umsonst gemacht haben. Indessen fehlte es diesem Helden an Geistesgegenwart. Er wartete zwar, bis Frau M*** ihre Kammerzofe entlassen hatte, hatte aber nicht die Geduld, der Bedienung Zeit zum Einschlafen zu lassen. Frau M*** klingelte und ließ ihn unter dem Hohngelächter und den Schlägen von fünf oder sechs Dienern schimpflich hinausjagen.

„Wenn er nun zwei Stunden gewartet hätte?“ fragte ich,

„Dann wäre ich in der unglücklichsten Lage gewesen. Er hätte mir sagen können: Wer wird daran zweifeln, daß ich nur auf Ihren Befehl hin hier bin?“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_065.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)