Seite:Ueber die Liebe 066.jpg

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Nach meinem Besuche bei dieser hübschen Frau ging ich zu einer anderen Dame, der liebenswertesten meiner Bekanntschaft. Ihre außergewöhnliche Feinfühligkeit übertrifft, wenn das möglich ist, ihre rührende Schönheit. Ich treffe sie allein an und erzähle ihr das Erlebnis der Frau M***. Wir plaudern darüber und sie sagt:

„Hören Sie, wenn der Mann, der diese Tat gewagt hat, jener Dame schon vordem liebenswert erschien, wird sie ihm verzeihen und ihn nachher lieben.“

Ich gestehe, daß ich über diesen Lichtstrahl, der unerwartet die Tiefe des menschlichen Herzens durchleuchtete, recht betroffen war. Erst nach einigem Stillschweigen vermochte ich zu fragen: „Hat ein Liebender aber den Mut, zu dem letzten Mittel, der Gewalttätigkeit, zu schreiten?“

Dieses Kapitel wäre viel inhaltsschwerer, wenn es eine Frau verfaßt hätte. Alles, was ich gesagt habe über die Sprödigkeit und den Stolz der Frau, über ihre anerzogene Schamhaftigkeit und deren Verletzungen, über gewisse Feinheiten des weiblichen Zartgefühls, das fast immer auf das engste mit Gemütsassoziationen verknüpft ist, die dem Manne fremd und oft in der Natur gar nicht begründet sind, alles das findet sich hier nur nach dem Hörensagen zusammengefaßt.

In einem Augenblicke philosophischer Offenheit sagte mir eine Frau ungefähr folgendes:

„Wenn ich jemals meine Freiheit opfern sollte, muß der Mann, den ich schließlich wähle, meine Neigung für ihn um so höher schätzen, da er ja weiß, wie geizig ich allezeit mit den geringsten Gunstbezeugungen gewesen bin.“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_066.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)