Seite:Ueber die Liebe 086.jpg

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seit der ersten Zeit unserer Bekanntschaft bewohne, als ich sie alle Abende sah, ist mir unerträglich geworden. Jedes Bild an der Wand, jedes Möbel, alles erinnert mich an das Glück, das ich in ihrer Gegenwart träumte und nun für immer verloren habe.

Im kalten Regen laufe ich durch die Straßen; der Zufall – ich will es Zufall nennen – führt mich vor ihrem Fenster vorüber. Die Nacht kommt, ich gehe mit Tränen in den Augen und starre zu ihrem Fenster hinauf. Plötzlich wird ein Vorhang ein wenig beiseite geschoben, als ob jemand auf den Platz hinuntersehen wolle, und schnell wieder geschlossen. Ich fühle einen körperlichen Schmerz am Herzen. Meine Kniee wanken, ich muß mich in die Vorhalle des Nachbarhauses flüchten. Tausend Gedanken durchfluten meine Seele: vielleicht hat der Zufall den Vorhang bewegt; wenn es aber ihre Hand war, die ihn so eilig wieder schloß?

Zweierlei ist das größte Unglück auf der Welt: eine unerfüllte Leidenschaft und das „dead blank“.

In meiner Liebe fühle ich, daß es ein paar Schritte von mir entfernt, aber außerhalb meines Machtbereiches, ein maßloses Glück gibt, das von einem Worte, einem Lächeln abhängt.

Ohne Leidenschaft, wie Schiassetti, finde ich an trüben Tagen nirgends eine Spur von Glück, ich zweifle, daß es für mich welches gibt, ich falle dem Spleen anheim. Man sollte keine starken Leidenschaften haben, nur ein wenig Neugier und Eitelkeit.

Es ist jetzt zwei Uhr nachts. Seit ich die kleine Bewegung des Vorhangs gesehen habe, seit sechs Uhr abends, habe ich zehn Besuche gemacht und bin im Theater gewesen, überall schweigsam und in Gedanken

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_086.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)