Seite:Ueber die Liebe 102.jpg

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Die falsche Freundin, die sich Handlungen von der größten Niedertracht erlaubt, kann sich trotzdem einbilden, sie sei einzig von dem Wunsche beseelt, eine wertvolle Freundschaft nicht zu verlieren. Die gelangweilte Freundin sagt sich, daß die Freundschaft in einem von der Liebe und ihren tödlichen Qualen erfaßten Herzen von selbst hinsterben muß. Liebe geht vor Freundschaft, deshalb kann diese sich nur durch Anvertrauung von Geheimnissen erhalten. Aber was fordert den Neid mehr heraus, als solche Bekenntnisse? Unter Frauen finden sie nur dann eine leidliche Aufnahme, wenn sie von folgender offener Erklärung begleitet werden: „Meine liebe Freundin, in dem ebenso sinnlosen wie unversöhnlichen Kriege, zu dem uns die von unseren Tyrannen geschaffenen Vorurteile herausfordern, sei mir heute behilflich. Morgen will ich dir helfen.“

Vor dieser Ausnahme geht noch die der wahren Freundschaft, die in der Kindheit entstanden und durch keine Eifersucht getrübt ist.

Das Geständnis einer Liebe aus Leidenschaft wird nur unter Schülern gut aufgenommen, die in die Liebe selbst verliebt sind, und von jungen Mädchen, die von Neugierde und ungestilltem Zärtlichkeitsbedürfnis verzehrt werden. Vielleicht sind sie bereits von dem Instinkt beseelt, daß hier der große Inhalt des Lebens liegt und daß sie sich nicht früh genug damit beschäftigen können.

Jeder hat schon beobachtet, wie kleine dreijährige Mädchen die Pflichten der Galanterie gewissenhaft erfüllen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_102.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)