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33. Von der Eifersucht

Wenn man liebt, fügt man bei jedem neuen Gegenstand, der dem Auge oder dem Gedächtnisse auffällt, – gleichgiltig, ob im Gedränge auf einer Tribüne beim aufmerksamen Zuhören einer Parlamentsverhandlung, oder im feindlichen Feuer beim Angriff gegen eine Feldwache –, dem geistigen Bilde der Geliebten immer neue Vollkommenheiten hinzu oder ersinnt neue, zuerst großartig erscheinende Mittel, um ihre Liebe noch mehr zu gewinnen.

Jeder Schritt auf dem Wege der Phantasie bringt einen köstlichen Augenblick ein, und es ist nicht zu verwundern, wenn man sich in dieser Traumwelt verliert.

Sobald die Eifersucht aufkommt, bleibt diese Gewohnheit der Seele zwar die gleiche, äußert sich aber in ganz entgegengesetzter Wirkung. Jede neue Vollkommenheit in der Krone der Geliebten, die vielleicht einen anderen liebt, gewährt uns nicht mehr himmlische Freuden, sondern stößt uns einen Dolch ins Herz. Eine Stimme ruft uns zu: „Diese Reize genießt nun der andere!“

Alles, was uns auffällt, hat jetzt nicht mehr seine frühere Wirkung, sondern bringt uns da, wo es vordem ein Mittel zur Erringung der Liebe war, nur das Glück des Rivalen noch stärker zum Bewußtsein.

Wenn wir einer schönen Frau begegnen, die durch den Park galoppiert, so fällt uns ein, daß der andere wegen seiner vorzüglichen Pferde berühmt ist.

In solchem Zustande verfällt man leicht in Wut. Man vergegenwärtigt sich nicht mehr, daß „in der

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_104.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)