Seite:Ueber die Liebe 109.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Augen auf ihm ruhen sah, und als ich ging, fühlte ich in mir das namenloseste Unglück mit der letzten Hoffnung streiten. Welche nie erlebten Gefühle, welche lebendigen Gedanken, welche blitzschnellen Folgerungen! Trotz des Glückes meines Rivalen fühlte ich doch meine Liebe mit unbeschreiblichem Stolz und Entzücken turmhoch über die seine erhaben. Ich sagte mir: Erblassen würden seine Wangen in feiger Furcht vor dem geringsten der Opfer, die meine Liebe freudig, ich kann sagen spielend bringen würde. Ohne zu zögern, könnte ich zum Beispiel mit der Hand in einen Hut fassen, um eines der beiden Lose zu ziehen: „von ihr geliebt werden“ oder „sofort sterben“. Dieses Gefühl ist so mit mir eins, daß ich dabei der liebenswürdigste Gesellschafter sein kann. Hätte man mir das vor zwei Jahren gesagt, so hätte ich gelacht.“

In der Schilderung der Reise der Kapitäne Lewis und Clarke nach den Missouriquellen im Jahre 1806 lese ich auf Seite 215:

„Die Ricaras sind arm, aber gut und großmütig. Wir hielten uns ziemlich lange in dreien ihrer Dörfer auf. Ihre Frauen sind schöner, als bei den anderen Stämmen, auf die wir gestoßen sind, und lassen ihre Liebhaber nicht gern lange schmachten. Wir fanden einen neuen Beweis für die alte Wahrheit, daß man nur in die Welt hinauszugehen braucht, um zu sehen, wie wandelbar alles ist. Unter den Ricaras ist es eine große Beleidigung, wenn eine Frau ohne Einwilligung ihres Gatten oder Bruders Liebesbewerbungen erhört, aber die Männer und Brüder sind hoch erfreut, wenn sie diese kleine Höflichkeit ihren Freunden erweisen dürfen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)