Seite:Ueber die Liebe 120.jpg

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geliebt zu werden, recht fühlbar zu machen, und gleichzeitig, daß ihm jenes Glück niemals zu teil werden wird. Das ist, abgesehen von der Eifersucht, vielleicht die grausamste Qual.

Ich erinnere mich, daß in einer großen Stadt ein sanfter und zärtlicher Mann durch einen ähnlichen Zustand veranlaßt wurde, seine Geliebte zu ermorden, die ihn nur aus Ehrgeiz gegen ihre Schwester liebte. Er lud sie eines Abends zu einer Fahrt aufs Meer ein, in einem Boote, das er selbst vorbereitet hatte. Auf offener See zog er eine Klappe auf, das Boot sank und kehrte nie zurück.

Einem Sechzigjährigen fiel es ein, die launenhafteste, tollste, liebenswürdigste und wunderlichste Schauspielerin Londons, Miß Cornel, auszuhalten. Man sagte ihm: „Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß sie dir treu bleibt?“ – „Keineswegs,“ meinte er, „aber sie wird mich lieben, vielleicht bis zur Raserei.“ Tatsächlich hat sie ihn ein volles Jahr geliebt, zeitweise über das vernünftige Maß hinaus, und drei Monate hindurch gab sie ihm keinerlei Anlaß zu Klagen. Er hatte es verstanden, ihren Ehrgeiz seiner Tochter gegenüber zu entflammen; freilich ein recht abstoßender Kunstgriff.

Der Ehrgeiz feiert seine Siege in der Liebe aus Sinnlichkeit, deren Schicksal er ist. Erfahrungsgemäß ist er der beste Prüfstein zur Unterscheidung von Liebe aus Galanterie und Liebe aus Leidenschaft. Es ist eine alte Kriegsregel, die man jungen Leuten beim Eintritt ins Regiment einprägt: „Wenn man einen Quartierzettel auf ein Haus erhält, in dem zwei Schwestern leben, so soll man der einen den Hof machen, wenn

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_120.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)