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unseren unerschrockensten Infanteriehauptleuten wie eine Fabel vorkommen und eines Tages wird die Nachwelt daran zweifeln.“

Diese physiologisch wunderliche Erscheinung erklärt sich aus einem besonderen Seelenzustande des Gefangenen, der zwischen sich und der Masse seiner Henker einen Kampf der Eigenliebe und einen Wettstreit der Eitelkeit anstiftet.

Unsere braven Militärärzte haben oft beobachtet, daß Verwundete, die in ihrem gewöhnlichen Geistes- und Nervenzustande während einer Operation vor Schmerzen laut aufgebrüllt hätten, Ruhe und Seelengroße zeigten, wenn man sie in richtiger Weise vorbereitet hatte. Man mußte ihr Ehrgefühl reizen und erst mit gleichgiltigen, dann, mit herausfordernden Worten behaupten, daß sie wohl nicht imstande sein würden, die Operation ohne lautes Geschrei zu ertragen.


37. Vom Streit in der Liebe

Es gibt zwei Arten von Streit in der Liebe, je nachdem der Streitsüchtige liebt oder nicht liebt.

Besitzt der eine der beiden Liebenden zu viele Vorzüge, die von beiden gleich geschätzt werden, so muß die Liebe des andern sterben, denn die Furcht vor Verachtung wird der Kristallbildung früher oder später plötzlich ein Ende machen.

Nichts ist dem Durchschnittsmenschen verhaßter, als geistige Überlegenheit. In der heutigen Welt liegt hier die Quelle alles Hasses, und wenn wir dieser Ursache nicht die furchtbarsten Folgen verdanken, so

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_123.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)