Seite:Ueber die Liebe 149.jpg

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einem Lande, wo alles natürlich ist, das Schlechte viel schwärzer erscheint, als anderwärts. Um nur von den Männern[1] zu reden, so sieht man hier in der Gesellschaft Ungeheuer auftauchen, die sich wo anders verstecken müßten. Es sind Menschen, die gleichmäßig leidenschaftlich, scharfblickend und feige sind. Ein böses Geschick hat sie zum Beispiel aus irgend einem Anlaß in die Nähe einer Frau geführt; wahnsinnig verliebt, trinken sie den Kelch des Leids, einen andern bevorzugt zu sehen, bis zur Hefe aus. Ihre Gegenwart hat nur den einen Zweck, diesem glücklicheren Geliebten entgegenzuarbeiten. Nichts entgeht ihnen und alle Welt sieht, daß ihnen nichts entgeht. Aber allem Ehrgefühl zum Trotz fahren sie fort, die Frau, ihren Geliebten und sich selbst zu quälen, und niemand tadelt sie, denn „sie tun, was ihnen Vergnügen macht“. Eines Abends gibt ihnen der Liebhaber, zum äußersten gebracht, einen Fußtritt; am nächsten Morgen bitten sie ihn sehr um Entschuldigung und beginnen von neuem, beständig und unerschütterlich, die Frau, den Geliebten und sich selbst zu peinigen. Man schaudert bei dem Gedanken, welche Fülle von Unglück diese niedrigen Seelen täglich hinnehmen müssen, und ohne Zweifel ist nur ein Gran Feigheit weniger nötig, um sie zu Giftmischern zu machen.

Es ist auch nur in Italien möglich, daß junge Lebemänner, die Millionäre sind, Tänzerinnen großer Bühnen vor den Augen der ganzen Stadt mit dreißig Soldi jeden Tag (1,20 Mark) großartig aushalten. Zwei Brüder, schöne, junge Leute, leidenschaftliche Jäger und Pferdeliebhaber, sind auf einen Fremden eifersüchtig. Statt aber zu ihm zu gehen und ihre


  1. [352]

    Heu! male nunc artes miseras haec saecula tractant;
    Jam tener assuevit munera velle puer.
     (Tibull, I, 4.)

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_149.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)