Seite:Ueber die Liebe 159.jpg

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unserem Anmarsche auf ihre Landgüter nach Ungarn zurückgezogen hatte, keine Gelegenheit hatte, die Liebe in den oberen Klassen zu beobachten, aber ich habe genug gesehen, um mich zu überzeugen, daß sie anders ist, als die Liebe in Paris.

„Dieses Gefühl wird von den Deutschen als eine Tugend angesehen, als eine Äußerung des Göttlichen, als etwas Mystisches. Es ist nicht lebhaft, heftig, eifersüchtig, herrisch wie im Herzen einer Italienerin; es ist innig und ähnelt dem Illuminismus; es ist meilenweit entfernt von der englischen Liebe.

„Vor einigen Jahren überfiel ein Leipziger Schneider in einem Anfall von Eifersucht seinen Nebenbuhler im öffentlichen Garten und erdolchte ihn. Er wurde zum Tode verurteilt. Die Moralisten jener Stadt stritten, gutmütig und leicht erregbar, wie die Deutschen sind (es ist dies eine Charakterschwäche an ihnen), über das Urteil, fanden es streng und bemitleideten sein Los. Aber das Urteil war nicht rückgängig zu machen. Am Tage der Hinrichtung erschienen alle jungen Mädchen Leipzigs in weißen Kleidern und gaben dem Schneider Blumen streuend das Geleit bis zum Schaffot.

„Kein Mensch fand diese Feierlichkeit merkwürdig. Freilich könnte man diesem Lande, das sich selbst für das Land der Denker hält, vorwerfen, es verherrliche damit den Mord. Aber es war eine Zeremonie und eine solche wird in Deutschland sicherlich niemals lächerlich gefunden. Man denke nur an das Hofzeremoniell der kleinen Fürsten, über das wir uns totlachen, das aber in Meiningen und Köthen überaus imposant erscheint.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_159.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)