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48. In Irland und Schottland

Ich liebe Irland zu sehr und ich habe mich dort zu wenig aufgehalten, um davon zu sprechen. Ich bediene mich der Beobachtungen eines Freundes.

Der gegenwärtige Zustand Irlands ist heute (1822) zum zwanzigsten Male seit zwei Jahrhunderten in jener eigentümlichen Phase, die mutigen Entschlüssen so förderlich und der Langeweile so feindlich ist, in einem Zustand, in dem sich Leute, die eben noch fröhlich zusammen frühstücken, zwei Stunden später auf einem Schlachtfelde wieder begegnen können. Nichts entspricht kräftiger und unmittelbarer der den zarten Leidenschaften günstigen Seelenstimmung, der Natürlichkeit. Nichts schützt mehr vor den beiden größten englischen Lastern, dem cant und der bashfulness (Heuchelei und Ängstlichkeit aus krankhaftem Stolz).

Man muß Irland für sehr unglücklich halten, da es seit zwei Jahrhunderten unter der feigen und grausamen Gewaltherrschaft Englands blutet. Es tritt in dem moralischen Zustande Irlands ein Schreckensgespenst hinzu, der Priester …

Seit zwei Jahrhunderten wird Irland ungefähr so schlecht regiert wie Sizilien. Und doch ist Sizilien das bei weitem glücklichere Land von beiden, die zu Gunsten weniger von Narren beherrscht werden. Seine Regierung läßt ihm wenigstens die Liebe und das Vergnügen. Sie hätte ihm diese wie alles andere wohl auch geraubt, aber glücklicherweise gibt es in Sizilien nur wenig von jenem moralischen Übel, das den Namen Gesetz und Regierung trägt. Ich bezeichne als moralisches Übel jede Regierung, die nicht

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_166.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)