Seite:Ueber die Liebe 175.jpg

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von jener seltsamen Kultur übrig geblieben ist, besteht in Versen, und zwar in Versen barockster und schwierigster Art. Man darf sich nicht wundern, wenn unsere auf die Balladen der Troubadoure gestützte Kenntnis unklar und wenig genau ist. Man hat sogar einen Heiratsvertrag in Versen gefunden. Nach der Eroberung von 1328 ordneten die Päpste zu wiederholten Malen an, daß alle Handschriften in der Landessprache als ketzerhaft verbrannt würden. Die römische Arglist verkündete das Lateinische als die einzige, eines so geistvollen Volkes würdige Sprache.

Auf den ersten Blick scheint so viel Öffentliches und Förmliches in der Liebe nicht im Einklang mit der wahren Leidenschaft zu stehen. Wenn die Dame zu ihrem Ritter sagte: „Geht aus Liebe zu mir und besucht das Heilige Grab zu Jerusalem, bleibt dort drei Jahre und kehrt dann zurück!“, so machte sich jener sofort auf den Weg; ein Augenblick des Zögerns hätte ihn mit gleicher Schande bedeckt, wie heutzutage eine Schwäche in Ehrensachen.

Die Sprache jener Zeit besaß eine große Feinheit, um die flüchtigsten Schattierungen der Empfindung auszudrücken. Ein weiteres Zeichen dafür, daß die Sitten auf dem Wege der wahren Kultur weit vorgeschritten waren, ist der Umstand, daß zu einer Zeit, wo die Schrecken des Mittelalters und des Lehnswesens mit ihrer rohen Gewalt kaum überwunden waren, das schwache Geschlecht weniger geknechtet wurde, als es heutzutage von Rechts wegen geschieht. Vielmehr finden wir die armen, schwachen Wesen, die in der Liebe das Höchste zu verlieren haben und deren Anmut so rasch verwelkt, als Herrinnen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_175.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)