Seite:Ueber die Liebe 181.jpg

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Margarete, die schönste Frau jener Zeit, hochbegabt in allen guten Eigenschaften, aller Tugend und aller Höfischkeit. Es begab sich, daß Wilhelm von Cabestaing, Sohn eines armen Ritters von der Burg Cabestaing, an den Hof des Herrn Raimund von Roussillon kam, sich ihm vorstellte und ihn bat, am Hofe als Knappe bleiben zu dürfen. Herr Raimund fand ihn hübsch und gefällig, hieß ihn willkommen und sagte ihm, er solle am Hofe verweilen. So blieb Wilhelm bei ihm und wußte sich so artig zu benehmen, daß groß und klein ihn liebte, und er verstand sich derartig hervorzutun, daß Herr Raimund wollte, er solle Page der Madonna Margarete, seiner Frau, werden. Und so geschah es. Nun wollte Wilhelm noch würdiger in Worten und Werken werden. Aber, wie es in der Liebe zu gehen pflegt, fand es sich, daß die Liebe Madonna Margarete erfaßte und ihren Sinn entflammte. So sehr gefiel ihr das Tun Wilhelms, seine Rede und seine Erscheinung, daß sie sich eines Tages nicht enthalten konnte, zu ihm zu sagen: „Wohlan, Wilhelm, sage mir, wenn eine Frau sich den Anschein gäbe, dich zu lieben, würdest du sie wieder lieben?“ – Wilhelm verstand sie und antwortete freimütig: „Gewiß, Herrin, ich würde es tun, vorausgesetzt, daß der Anschein Wahrheit ist.“ – „Beim heiligen Johannes“, sagte die Dame, „du hast wie ein Mann gesprochen. Aber jetzt will ich dich prüfen, ob du zu sehen und zu erkennen vermagst, was am Anschein wahr oder unwahr ist.“

Als Wilhelm diese Worte vernommen hatte, erwiderte er: „Herrin, es geschehe, wie es Euch gefällt.“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_181.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)