Seite:Ueber die Liebe 214.jpg

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An Tibull ist eine sanfte Schwermut charakteristisch, die selbst den Genuß durch einen Schleier von Träumerei und Traurigkeit abtönt. Darin beruht sein Reiz. Wenn irgend ein antiker Dichter die Liebe der Seele gekannt hat, so war es Tibull. Aber jene Feinheiten der Empfindung, die er so meisterhaft schildert, liegen nur in ihm selbst; sie in seinen Geliebten zu entdecken oder zu erwecken, versucht er ebensowenig, wie Ovid und Properz. An den Frauen sind es nur äußerliche Reize, die ihn begeistern, ihre Gunst ist es, die er ersehnt und verlangt, ihre Käuflichkeit, ihre Untreue und ihr Verlust, die ihn unglücklich machen.

Von allen den Frauen, die durch die Verse dieser drei großen Dichter berühmt geworden sind, erscheint Cynthia als die liebenswürdigste. Zu ihren sonstigen Vorzügen tritt ihre Begabung hinzu; sie pflegt den Gesang und die Dichtkunst. Aber bei all ihren Fähigkeiten, die auch bei gewissen Hetären nicht selten waren, taugt sie nicht mehr als diese; Gold und Wein und Wollust beherrschen sie trotzdem, und Properz, der ihren Kunstsinn nur ein oder zweimal rühmt, wird in seiner Leidenschaft für Cynthia doch von einer ganz anderen Macht bemeistert.“

Diese großen Dichter gehören augenscheinlich zu den feinsinnigsten und zartfühligsten Geistern ihrer Zeit. Aber wen lieben sie und wie lieben sie? Dabei muß man von jeder literarischen Betrachtung und Beurteilung absehen. Ich will von ihnen nur ein Zeugnis über ihr Jahrhundert, genau so, wie ein heute moderner Roman dereinst in zweitausend Jahren ein Zeugnis unserer Sitten sein wird.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_214.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)