Seite:Ueber die Liebe 250.jpg

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mitten durch einen düsteren Wald, dessen riesenhafte Bäume mit ihren dichten, in den Himmel ragenden Kronen das Tageslicht verschlingen und eine nicht für die Gefahr geborene Seele mit Grauen erfüllen.

Nach langem Irren durch ein endloses Labyrinth, dessen zahllose Kreuz- und Querwege die Eigenliebe totmachen, gelangt man plötzlich in eine neue Welt und findet sich im köstlichen Tale von Kaschmir.

Wie können Don Juans, die niemals diesen Pfad betreten oder ihn höchstens nur einige Schritte weit gehen, ein Urteil über die Fernsicht haben, die sich an seinem Ende erschließt?

„Die Unbeständigkeit hat ihr Gutes.“

Gut, ihr macht euch über Treue und Gerechtigkeit lustig. Was sucht man in der Abwechslung? Offenbar Genuß.

Aber der Genuß, den man bei einer hübschen Frau findet, die man vierzehn Tage lang begehrt hat und dann drei Monate behält, ist ein anderer, als wenn man sich drei Jahre hindurch nach ihr gesehnt hat und sie zehn Jahre behält.

Wenn ich nicht immer sage, so liegt das daran, weil das Alter, wie man sagt, unsere körperliche Beschaffenheit ändert und uns für die Liebe unfähig macht. Ich für meinen Teil glaube das nicht. Ist unsre Geliebte unsre vertrauteste Freundin geworden, so gewährt sie uns einen neuen Genuß, die Freuden des Alters. Sie ist eine Blume, die im Lenz in der Zeit der Blüte eine Rose war, und sich im Herbst, wenn die Rosen nicht mehr blühen, in eine köstliche Frucht verwandelt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_250.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)