Seite:Ueber die Liebe 253.jpg

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Wenn wir die Eitelkeit außer dem Spiele lassen, so ist der erste Sieg keinem Manne wahrhaft angenehm, außer:

1. wenn er gar keine Zeit gehabt hat, die betreffende Frau zu begehren und sich mit ihr in seiner Einbildung zu beschäftigen, das heißt, außer wenn er sie im ersten Augenblick des Begehrens sofort besitzt. Das ist der Fall des höchsten Sinnengenusses, denn die Seele ist noch völlig in jenem Zustande, wo sie ungeachtet der Hindernisse nur die Schönheiten sieht.

2. Oder, wenn es sich lediglich um ein weibliches Wesen ohne alle Nebenumstände und Folgen handelt, zum Beispiel um eine hübsche Kammerzofe oder eine von denen, die man nur begehrt, wenn man sie gerade vor Augen hat. Sowie ein Körnchen innerer Leidenschaft hinzutritt, ist auch ein Körnchen, eine Möglichkeit des Fiaskos dabei.

3. Oder, wenn der Liebhaber seine Geliebte auf eine so unerwartete Weise erobert, daß er nicht die geringste Zeit zum Nachdenken findet.

4. Oder in einer von Seiten der Frau hingebungsvollen und übertriebenen Liebe, die von ihrem Geliebten nicht in gleichem Maße geteilt wird.

Zur Erkenntnis dessen, daß der erste Sieg sehr oft eine peinliche Anstrengung ist, muß man zwischen dem Vergnügen am Abenteuer und dem Glücke des darauffolgenden Augenblicks unterscheiden. Man ist zufrieden:

1. daß man endlich in der so sehr herbeigesehnten Lage, im Besitze eines vollkommenen Glückes für die Zukunft ist, daß man über die Zeiten jener grausamen Härte, die einen an der Gegenliebe zweifeln ließ, hinaus ist;


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_253.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)