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97.

Nur ein sehr kleiner Teil der Kunst glücklich zu sein ist eine exakte Wissenschaft, eine Art Leiter, auf der die Menschheit in jedem Jahrhundert sicherlich eine Sprosse höher steigt; es ist der Teil, der von der Regierung abhängt. Und auch das ist Theorie; mir kommen die Venetianer von 1770 glücklicher vor, als die Menschen in Philadelphia von heute.

Übrigens ist es mit der Kunst glücklich zu sein wie mit der Dichtkunst. Abgesehen von der Vervollkommnung der Technik hatte Homer vor zweitausend Jahren mehr Begabung als Lord Byron.

Wenn ich aufmerksam im Plutarch lese, glaube ich zu erkennen, daß man in Sizilien zur Zeit Dions, obwohl es damals weder Buchdruckereien noch Eispunsch gab, glücklicher war, als wir es heutzutage zu sein verstehen.

Ich möchte lieber ein Araber des fünften Jahrhunderts, als ein Pariser des neunzehnten sein.


98.

Ich nenne Freude jede Wahrnehmung der Seele, die sie lieber empfinden, als nicht empfinden möchte, und Schmerz jede Wahrnehmung, die sie lieber nicht empfinden, als empfinden möchte.

Wenn ich lieber einschlafen möchte, als das empfinden, was ich gerade empfinde, so leide ich. Folglich ist die Liebessehnsucht kein Leid, denn der Liebende verläßt die angenehmste Gesellschaft, um sich ungestört seinen Träumereien hinzugeben.

Durch lange Dauer werden körperliche Freuden vermindert, Leiden vergrößert. Seelische Freuden hingegen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_298.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)