Seite:Ueber die Liebe 301.jpg

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er mit dem Gelde anfangen soll. Hat er zu große Wünsche gehabt, so hat er sich allen Genuß bereits vorweg genommen, er hat sich den Genuß zu lebhaft ausgemalt.

Dieses Unglück gibt es in der Liebe aus Leidenschaft nicht. Ein hell loderndes Herz denkt nicht an die letzte, höchstens an die nächste Gunstbezeugung der Geliebten. Hat sie uns grausam behandelt, so sehnen wir uns nach einem Händedruck von ihr. Weiter hinaus hegt die Phantasie keine Wünsche. Will man sie dazu zwingen, so läßt sie uns schnell im Stich, aus Furcht, die Geliebte zu entweihen.

Hat die Freude ihr Ende gefunden, so sinken wir natürlich in den Zustand der Gleichgiltigkeit zurück. Aber diese Gleichgiltigkeit ist eine andere, als früher. Der zweite Zustand unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß wir vorher empfänglicher für den Genuß waren und daß wir mit mehr Entzücken das Glück genießen konnten. Jetzt sind die genießenden Organe ermattet, und unsere Phantasie hat keine Neigung mehr, jene Gedanken wachzurufen, die das nun befriedigte Begehren reizten.

Wenn man uns dagegen mitten im Glück dem Genusse entreißt, fühlen wir Leid.


99.

Die Freude macht nicht halb so viel Eindruck wie der Schmerz, und unser Mitgefühl wird durch eine Schilderung des Glückes weit weniger in Mitleidenschaft gezogen, als durch eine Schilderung des Unglücks. Deshalb können auch die Künstler das Unglück nie erschütternd genug darstellen. Nur vor

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_301.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)