Seite:Ueber die Liebe 338.jpg

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aufs Wort glaubte, hätte sie ohne Zweifel augenblicklich verlassen. Da dieser Skandal also möglich war, versuchte die Mutter ihr Heil nochmals beim guten Gustav, und er versprach in der Tat, wieder zu kommen. Er und ich verkehrten damals viel miteinander. Wir arbeiteten gemeinsam. Ich war ihm sympathisch und so ziemlich der Franzose, mit dem er am liebsten verkehrte. Wir verbrachten den Tag teilweise zusammen; er unterrichtete mich im Schwedischen, ich ihn in der Geometrie und Differenzialrechnung. Seit kurzem nämlich schwärmte er für Mathematik und ich mußte oft bei unseren Büchern meine alten Schulkenntnisse auskramen. Manchmal griff ich auch zur Violine und viel geduldiger, als Sie, hörte er mir stundenlang willig zu.

Felicie machte mir den Hof, damit ich fortwährend bei ihm sein sollte; sie sah darin ein Mittel, Weilberg heranzuziehen. Als wir eines Tages zusammen bei ihr zu Tisch waren, geriet sie auf den Einfall, Gustavs Liebe vor mir auf die Probe zu stellen. Sie nahm sich ihm gegenüber Vertraulichkeiten heraus, wie man sie nur zwischen ganz intim zusammenlebenden Menschen sieht. Weilberg verstand sie zuerst nicht; da wurde sie derartig deutlich, daß er verstehen mußte. Er sah mich an, lachte und aß ruhig weiter, ohne sich zu rühren. Felicie ersuchte ihn, ihr etwas an ihrem Kleide in Ordnung zu machen. Schroff entgegnete er: „Mein Gott, Sie haben doch eine Kammerjungfer, die Sie ankleiden kann!“

„Sehen Sie,“ flüsterte Felicie mir zu, „wie taktvoll er ist. Ich dachte mir’s wohl, daß er in Ihrer Gegenwart nicht eine Stecknadel an mein Kleid stecken würde.“

Trotzdem war sie über diese Zurückhaltung und den Takt ihres angeblichen Liebhabers gar nicht so sehr

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_338.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)